Die Österreicher fühlen sich großteils gesund, die Krankenstandstage nehmen ab. Aber: Die psychischen Erkrankungen steigen. Dafür verantwortlich ist auch der Stress in der Arbeit.
Wer Stress in der Arbeit hat, könnte genauso gut den ganzen Tag Passivrauchen. Der schädigende Effekt für die Gesundheit ist derselbe. Das klingt vielleicht drastisch. Schön zu reden ist folgender Zusammenhang aber nicht: Arbeit beeinflusst den Gesundheitszustand eines Menschen und sogar seine Lebenserwartung.
Der griffige Passivraucher-Vergleich stammt nicht vom Gesundheitsministerium, sondern von Forschern der renommierten Universitäten Stanford und Harvard, die in einer Meta-Analyse 228 Studien betrachtet haben. Daraus haben sie zehn Arbeitsplatz-Stressoren verdichtet, die die Gesundheit ruinieren. Besonders schädlich sind: Keine Versicherung zu haben, Arbeitslosigkeit, viele Überstunden, große Jobunsicherheit und geringe Job-Kontrolle. Menschen mit hoher Arbeitsbelastung und dem damit verbundenem Stress sollen bis zu drei Jahre ihrer Lebenserwartung einbüßen. Das treffe vor allem Menschen mit geringer Ausbildung und den dadurch erschwerten Jobbedingungen. Klar, die Forscher beziehen sich auf die amerikanische Gesellschaft. Doch viele dieser Faktoren hörte man so in den vergangenen Wochen auch vom österreichischen Arbeitsmarkt.
Interessant ist, dass Österreicher ihren eigenen Gesundheitszustand anders einschätzen. Ganz blendend nämlich: Laut der aktuellen österreichischen Gesundheitsbefragung 2014 schätzen 79 Prozent der Österreicher ihren Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“ ein – das ist ein Anstieg um drei Prozent im Vergleich zu 2006/2007. Damals wurde der Report zuletzt veröffentlicht. Diese Ergebnisse passen gut mit jenen des gestern erschienenen Fehlzeitenreport 2015 zusammen: Er zeigt, dass die Krankenstandstage seit 1980 abgenommen haben (siehe unten).
Steht es also bestens um die Psyche und Physis der Österreicher? Nicht so ganz.
Zunahme des Wahnsinns
Rudolf Karazman, Arbeitsmediziner und Gründer der IBG, einem Institut für humanökologische Unternehmensführung, erklärt: „Arbeit hat gesundheitlich einen Doppelcharakter: Sie kann krank machen, wenn sie nur Verausgabung bedeutet. Sie kann aber die Gesundheit fördern, wenn ich in ihr Sinn finde, sozial integriert bin und regenerieren kann. Wir sind Sozialwesen und wo die Arbeit Erfüllung und Beziehung mit sich bringt, bereichert sie. Ich würde sagen, dass die Hälfte der Arbeitswelten so ist.“ Die andere Hälfte der Arbeitswelten übe Druck aus.
Laut Statistiken nehmen die psychischen Leidenszustände seit Jahren zu. Laut Fehlzeitenreport waren 2013 2,3 Prozent aller Krankenstände auf psychische Ursachen zurückzuführen, 2014 waren es 2,5 Prozent. Das scheint nicht viel zu sein. Doch in einigen Untersuchungen wurde die Wechselwirkung zwischen psychischen und physischen Belastungen beschrieben.
Karazman erklärt diesen Trend einerseits damit, dass psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft heute eher akzeptiert würden und leichter diagnostizierbar sind. Andererseits aber zeichnet die flexibilisierte und globalisierte Arbeitswelt mit ihrer Always-on-Mentalität, Großraumbüros, Management by Stress und prekären Arbeitsverhältnissen verantwortlich. „Zudem kann sich keiner mehr entärgern. Dabei ist Ärger eine Hauptkrankheit in der Arbeitswelt“, sagt Karazman, der soeben sein Buch „Human Quality Management: Menschengerechte Unternehmensführung“ veröffentlicht hat.
Alles Süchtler?
Wie man das alles kompensiert? Michael Musalek ist Leiter des Anton Proksch Instituts, einer Klinik für Suchtkranke. Er sagt, dass Doping in der Gesellschaft zunimmt. „Das Tragische ist, dass wir eigentlich nicht in einer Leistungsgesellschaft leben, sondern in einer Erfolgsgesellschaft. Wenn wir keinen Erfolg haben, ist es egal, wie viel wir leisten. Damit gerät der Mensch massiv unter Druck. Das muss er kompensieren.“ Amphetamine und Kokain würden genommen, um Leistung zu bringen; Tranquilizer und Alkohol, um ruhiger zu werden. Manager seien besonders gefährdet – denn für sie gilt der Erfolgsdruck tagtäglich.
Dabei konnten Studien zeigen, dass die schwächeren Schichten auch die kränkeren sind: „Weil sie nicht so viel Zeit und auch nicht die Möglichkeiten haben, auf sich zu schauen. Doch die Schere wird kleiner, denn den Druck haben mittlerweile alle. Die meisten Vorgesetzten haben ja selber auch wieder Vorgesetzte“, sagt Musalek.
Die Lösung: gute Führung
Wer also trägt die Verantwortung für die Gesundheit? Der Chef, der nicht einmal sich selbst Schwäche und Defizite eingestehen kann?
Monika Spiegel vom Institut Psyche und Wirtschaft von der Sigmund Freud Privatuniversität erklärt: „Führungskräfte haben einen inneren Auftrag, wollen mehr leisten als andere. Sie setzen sich auch mit Bandscheibenvorfall ins Büro.“ Krankheit zuzugeben, gelte in diesen Kreisen als schwach. „Im Topmanagement muss man sich gesund einschätzen, Kranksein ist keine Option. Das ist verboten. Da muss man schon zusammenbrechen“, sagt Monika Spiegel.
Auch dem neuen WdF-Report nach schätzen 67 Prozent der Manager ihren Gesundheitszustand als gut ein, sogar 18 Prozent schätzen diesen als ausgezeichnet ein. Interessant ist, dass trotzdem 57 Prozent angeben, dass Stress und psychische Belastung auf sie zutrifft. 47 Prozent klagen über Bewegungsmangel und jeweils 29 Prozent über Über- und Untergewicht und ungesunde Ernährung. „Auf Nachfrage meinen 27 Prozent der Befragten, dass sie aktuell gesundheitliche Schwierigkeiten haben“, so Studienautor Felix Josef von Triconsult. Der Hernstein Management-Report von Mai schärft das Bild: Rund die Hälfte der Befragten fühlt sich verstärkter Belastung ausgesetzt. Zeitknappheit, wenige Pausen und mangelnde Planbarkeit ist für viele ein Thema. Was sie gerne an ihrer Führungsrolle ändern würden? Zwischenmenschliche Aspekte stehen ganz oben auf der Wunschliste.
Da geht es den Chefs wie ihren Mitarbeitern. Was sie oft vergessen: „Gute Führung geht mit weniger Krankenständen einher“, sagt Karazman. Was er unter guter Führung versteht: „Im Mittelpunkt steht, dass die Mitarbeiter die Quelle der Wertschöpfung sind. Ich sehe mich als Dienstleister meiner Mitarbeiter. Ich schau darauf, dass sie sich gut entwickeln, dass niemand unter die Räder kommt. Schlechte Führung hingegen sieht die Mitarbeiter als Problem, als notwendiges Übel.“
Gesunde Ernährung, Fitnessstudio, Schönheitsoperation: Der Druck, perfekt zu sein, steigt – die Kosten dafür auch
Die Auswahl des richtigen Joghurts im Supermarkt dauert: Welcher Bakterienstamm soll der Darmflora diesmal zugeführt, mit welchen Inhaltsstoffen körperliches Wohlbefinden am nachhaltigsten gesteigert werden? Zwischen prall gefüllten Regalreihen geht es mittlerweile um mehr als um das Stillen von Hunger: Es geht um eine Optimierung von Körper und Seele.
„Wir haben in der Alltagskonsumwelt zunehmend Produkte, die so inszeniert sind, als seien sie Medikamente“, sagt Wolfgang Ullrich, Kunstwissenschafter und Medienphilosoph aus Leipzig. In der Warenästhetik werde stark mit der Inszenierung von Placeboeffekten gearbeitet.
So werde suggeriert, dass man mit dem Produkt Körper und Psyche regelrecht selbst designen kann. Diese Art der Logik ist nicht aufs Kühlregal beschränkt: Kosmetikprodukte, Müslis, Säfte – sie alle versprechen, aus Konsumenten bessere Menschen machen.
Die Suche nach dem besseren Ich ist omnipräsent. Wellness, Gesundheit folgen dem Ansatz der Kalokagathie, also einer Verbindung von innerer und äußerer Schönheit, nach der Idee: Wer innerlich schön ist, strahlt es nach außen aus. Wenn es um die Fitness und die damit verbundene Modifizierung des Körpers geht, kann das, einem protestantischen Lebensprinzip folgend, schon auch mit viel Mühe und Disziplin verbunden sein – oder mit einem operativen Eingriff.
Die plastische Chirurgie ist zu einem Kernbereich der Selbstoptimierung geworden. Die Grenzen verschwimmen. Viele plastische Chirurgen ordinieren heute beispielsweise in Wellnesshotels.
Leere Versprechungen
Christian Putscher, Ernährungswissenschafter und Personal Trainer, hilft Selbstoptimierern: Zu ihm kommen Menschen, die an Diäten und Trainingsvorsätzen gescheitert sind. Anstatt abzuspecken, haben manche in einem wilden Mix aus Diäten über die Jahre stark zugenommen. „Wer sich verbessern will, der muss sich auch ein entsprechendes Fachwissen aneignen“, sagt Putscher. „Als Konsument hat man heutzutage keine Chance mehr zu erkennen, ob an Ernährungshypes überhaupt was dran ist.“
Im Fitnessbereich sieht es ähnlich aus: Immer effektiver soll trainiert, immer weniger Zeit dafür aufgewendet werden. Das Ziel ist stets ein perfekter Körper. Das hat Potenzial für große Versprechungen und neue Geschäftsideen. Ein Workout, das nur sieben Minuten dauert, soll so effektiv wie stundenlanges Schwitzen sein. Ein Training, bei dem der Körper mit Stromstößen malträtiert wird, soll die Muskeln sprießen lassen. „All das funktioniert auf Dauer nicht“, urteilt Putscher, „aber die Branche lebt im Endeffekt von der Dummheit der Massen.“
Der Druck, einen perfekten Körper zu haben, steigt zunehmend: Besonders Frauen und junge Männer kämen häufig mit unrealistischen Vorstellungen. „Früher ging man mit einem Foto von einer schönen Frisur zum Friseur“, sagt er, „heute zeigt man seinem Trainer Fotos vom Traumkörpern und sagt: ‚So will ich werden.'“
Zwanghaft glücklich sein wollen
„Auf ganz vielen Ebenen herrscht sehr viel Druck“, kritisiert auch Heide-Marie Smolka, Psychologin und Glückstrainerin. Schließlich soll ja auch im Beruf und im Privatleben alles wie am Schnürchen klappen. „Dieser Zwang zur Optimierung überfordert die Menschen“, ist sie überzeugt.
In ihren Seminaren gehe es darum zu erkennen, was einen selbst glücklich macht. Dabei kämen Menschen oft auf ganz andere Ideale als jene, die die Mainstreamgesellschaft vorgibt.
Selbst im Bereich des persönlichen Glücks werde aber oft gedacht „wie bei einem Autoservice“: „Viele denken am Anfang meiner Seminare: Ich bin vegan, gehe einmal in der Woche laufen – und das mit dem Glück bringe ich jetzt auch noch in Ordnung.“ Das für immer anhaltende Gefühl von Glück, das sich viele von ihren Seminaren erhoffen, kann Smolka aber nicht versprechen: „Dazu gehört immer auch ein Gegenpol.“
Beginnende Grundpanik
Hinter dem Trend der Selbstoptimierung steht eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft, sagt Ullrich: „Jeder ist für sich selbst verantwortlich, und jeder muss erst mal selber schauen, wo er bleibt.“ Auch das Bewusstsein, dass man eben nur das eine Leben habe, sei sehr stark ausgeprägt.
Daraus resultiere auch der Selbstgestaltungstrieb: „Die Endlichkeit der Möglichkeiten ist den Menschen bewusst.“ Daher hätten viele den Drang, das Beste aus ihrem Leben zu machen und ihre Zeit optimal zu nutzen, um fit, gesund und stark werden.
Aber ist das so schlecht? Die Gesellschaft wird oft als krank bezeichnet. Psychische Erkrankungen sowie Adipositas nehmen seit Jahren zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Gesellschaft nicht nur krankredet“, winkt Ullrich ab. Denn durch diese „Grundpanik“, dass man schlecht lebt, werde der Verkauf von jenen Produkten, die dem Abhilfe verschaffen könnten, ja erst angekurbelt.
Eines ist aber klar: „Wenn der Bogen überspannt wird, dann meldet sich der Körper“, warnt Smolka, etwa mit Burnout oder Depressionen. Das sei dann eine „Riesenalarmglocke“.
Kluft zwischen Arm und Reich
Noch eine Kehrseite der Medaille: Wer nicht mitmachen will oder kann, hat ein Problem. „Ich glaube, dass sich die Felder der Intoleranz in den letzten 40 Jahren stark verschoben haben“, sagt Ullrich. Früher waren Übergewicht und Rauchen noch akzeptiert. Wer extrem übergewichtig ist, dem würde heute eine Spitzenposition gar nicht mehr zugetraut. Menschen, deren Körper nicht ins Bild passt, würde mit Misstrauen begegnet: „Denn der Körper wird gern als Indiz dafür genommen, dass mit diesem Menschen grundsätzlich etwas nicht stimmt.“
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst indes weiter, urteilt Ullrich: Wer reich ist, kann sich Selbstoptimierung bis hin zu chirurgischen Schönheitsoperationen leisten – und wird von der Gesellschaft deshalb auch als leistungsfähiger betrachtet. „Wer Geld hat, kann sich auch besser inszenierte Angebote leisten.“ Der Trend zur Selbstoptimierung wird, so Ullrich, weitergehen, „die Geschäftsfelder verzeichnen Wachstum. „Man will Milieus ansprechen, die bisher nicht erreicht wurden.“
Was man gegen all den Druck tun kann? „Langeweile zulassen“, rät Glückstrainerin Smolka. „Selbstliebe kultivieren und sich hier und da Nicht-optimal-Sein gestatten.“
Positiver Effekt auf Umgang mit Erkrankung und Psyche – Einfluss auf Nierenfunktion noch nicht einschätzbar
Diabetiker, die durch ein „Anti-Stress-Training“ besser entspannen und den psychischen Umgang mit ihrer Erkrankung lernen, haben langfristig möglicherweise weniger gesundheitliche Schäden und psychische Probleme. Zu diesem Ergebnis kommt die Heidelberger Diabetes und Stress-Studie (HeiDis), die den Effekt der Stressreduktion bei Diabetikern untersucht. Ihre Ergebnisse nach einem Jahr Therapie sind jetzt veröffentlicht worden: Die Teilnehmer an der achtwöchigen Anti-Stress-Gruppentherapie mit wöchentlichem Übungsprogramm waren nach einem Jahr weniger depressiv und körperlich fitter, hatten z.B. einen niedrigeren Blutdruck. Allerdings war ihre Eiweiß-Ausscheidung, die mit nachlassender Nierenfunktion zunimmt, unverändert – bei der unbehandelten Kontrollgruppe hatte sich diese weiter verschlechtert.
„Eine zuverlässige Aussage über den Effekt der Therapie auf den physischen Zustand ist erst nach Abschluss der Studie in vier Jahren möglich“, erklärt Wolfgang Herzog, Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik des Psychosozialen Zentrums am Universitätsklinikum Heidelberg. „Wir sind aber schon jetzt sicher, dass die psychische Situation der zuckerkranken Patienten durch ein wöchentliches Antistress-Programm verbessert werden kann.“
Die Ergebnisse der HeiDis-Studie, an der insgesamt 110 Diabetiker, Männer und Frauen, teilnahmen, wurden in der Zeitschrift „Diabetes Care“ veröffentlicht. Gemeinsam mit der Abteilung Endokrinologie an der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg unter Leitung von Peter Nawroth wurden für die HeiDis-Studie Patienten rekrutiert, die seit Jahren an Diabetes litten und ein hohes Risiko für Komplikationen hatten. Diese Patienten haben besonders häufig Depressionen und Ängste, da sie ihre Erkrankung als einschränkend und bedrohlich erleben. Zusätzliche Gesundheitsprobleme durch Gefäßschäden, z.B. an Herz und Augen, sind ebenfalls häufig.
Hinweise dafür, dass ein Anti-Stress-Programm Schäden verhindern kann, fand Nawroth und sein Forschungsteam in Tierversuchen sowie in einer Pilot-Studie vor fast zehn Jahren: Testpersonen unter Stress zeigten nicht nur hohe Stress-Hormonspiegel, sondern aktivieren das Schlüsselmolekül, den sogenannten Transkriptionsfaktor NF-kappaB, der Entzündungen und Abbauprozesse auslöst. Die Hypothese, die HeiDis nun testet, lautet im Umkehrschluss: Kann weniger Stress gesundheitliche Schäden verhindern?
Atem- und Meditationsübungen
Durch Erhöhung der Achtsamkeit zielte das Antistress-Programm darauf ab, dass die Patienten ihre Erkrankung einschließlich der unangenehmen Erscheinungen besser akzeptieren und sich darüber austauschen. In acht wöchentlichen Abendtreffen, die jeweils gemeinsam von einer Psychologin und Ärztin geleitet wurden, lernten die Patienten ihre Erkrankung neu erleben. Dabei halfen Atem- und Meditationsübungen ebenso wie Übungen im Umgang mit kritischen Situationen, beispielsweise einer Unterzuckerung, und medizinische Information. Als Konsequenz litten die Patienten seltener an Depressionen, wie die Auswertung von Fragebögen ergab; ihr körperlicher Zustand verbesserte sich durch eine Senkung des Blutdrucks und die Reduktion weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren.
Die Teilnehmer bewerteten ihre Therapie überwiegend als positiv; ihre Lebenseinstellung zu der Erkrankung habe sich geändert, sie wollten nun insgesamt bewusster und aufmerksamer leben. Jeder zweite Teilnehmer war an einer Fortsetzung der Therapie interessiert.
Abstract:
Hartmann M, Kopf S, Kircher C, Faude-Lang V, Djuric Z, Augstein F, Friederich HC, Kieser M, Bierhaus A, Humpert PM, Herzog W, Nawroth PP. Sustained effects of a mindfulness-based stress-reduction intervention in type 2 diabetes patients: Design and first results of a randomized controlled trial (the HEIDIS-Study). Diabetes Care published ahead of print February 14, 2012, doi:10.2337/dc11-1343
Anhaltend hoher Arbeits-, Leistungs- und zwischenmenschlicher Konkurrenzdruck gilt als wesentliche Burnout-Gefahr. Alle gehen einem auf die Nerven – die Ungeduld nimmt zu, gleichzeitig die Erschöpfung. Wann von An- auf Entspannung umgeschaltet werden sollte.
Anhaltend hoher Arbeits-, Leistungs- und zwischenmenschlicher Konkurrenzdruck gilt als wesentliche Burnout-Gefahr. Doch ganz so einfach liegen die Dinge nicht. „Ob jemand bei der heutigen beruflichen starken Beanspruchung tatsächlich ausbrennt oder, ganz im Gegenteil, als Folge des hohen Forderungsniveaus an Professionalität gewinnt, das hängt auch ganz erheblich von ihr oder ihm selbst ab“, sagt Thomas Weegen, Geschäftsführer der auf Zusammenarbeit und Entwicklung spezialisierten Unternehmensberatung Coverdale, München. In welche Richtung sich die Entwicklung bewege, das sei leider in einem weit unterschätzten Ausmaß auch eine Frage des persönlichen Verhaltens.
Unterstützung für diese Einschätzung bekommt er vom Schweizer Psychotherapeuten Urs Peter Lattmann aus Aarau. Auch für Lattmann liegt das „Geheimnis“ körperlicher wie seelischer beruflicher Standfestigkeit vor allem mit darin, ein Empfinden dafür zu entwickeln, wann von Anspannung auf Entspannung umgeschaltet werden muss. Dafür gebe es eindeutige Signale, die beachtet werden sollten.
Die eindeutigen Signale
Bei etwas Selbstaufmerksamkeit seien die unübersehbar: physisch zunehmende Erschöpfungsgefühle; psychisch gesteigerte Erregbarkeit; sozial: alle gehen einem zunehmend auf die Nerven; verhaltensmäßig wachsende Ungeduld. „Diese Merkmale machen darauf aufmerksam: Meine Anspannung verlässt den gesunden Bereich“, sagt Lattmann.
Um der Gefahr vorzubeugen, Gesundheit, berufliche Entwicklung und nicht zuletzt die Freude am Leben durch Ausbrennen zu gefährden, müssten diese Zeichen beachtet und ernstgenommen werden. Denn „die positive, beflügelnde Anspannung schlägt gnadenlos in negative, lähmende Abgeschlagenheit bis hin zur Apathie um, wenn weder Empfinden noch Fähigkeiten für eine individuell optimale Spannungsbalance und Spannungsregulation vorhanden sind“, warnt Lattmann.
Eine wichtige präventive, selbstschützende Maßnahme ist damit, die persönliche Spannungslage einschätzen zu lernen und Fähigkeiten für eine entlastende Spannungsregulation zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist, “ sich bewusst zu werden, dass der vielfach als plötzlich empfundene Umschwung im Spannungsempfinden ein schleichender, sich allmählich aufbauender Prozess ist“, sagt Lattmann. Es komme also darauf an, ein Gefühl für diese Entwicklung und die sie begleitenden Zeichen zu bekommen, die viele Gesichter habe.
Körperliche Anzeichen
Unmittelbar körperliche Anzeichen einer gestörten Spannungsbalance sind Muskelverspannungen, die viel beredeten Nacken-, Schulter und Rückenschmerzen. Aber auch hoher Blutdruck, Schlaf- und Verdauungsprobleme, übermäßiges oder nächtliches Schwitzen, vermeintliche Herzprobleme (Herzneurose), Lustlosigkeit in der Paarbeziehung.
Auf der Gefühlsseite warnen Empfindungen wie Überforderung, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Sinnlosigkeit, Einsamkeit vor einem heraufziehenden Burnout. Eindeutige Warnzeichen sind auch anhaltende innere Unruhe, emotionale Unausgeglichenheit und Gereiztheit, Versagens- und Zukunftsängste. Mental meldet sich die fortschreitende Überbelastung mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Oder mit tendenziell zunehmender negativer Bewertung der Arbeit („Auch das noch!“), der Mitmenschen („Überall Idioten!“) und des Lebens überhaupt („Ist doch eh alles Mist!“). Und ständigem Grübeln.
Und last, but not least deuten auch unkontrolliertes (Neben- bei-)Essen und ebensolcher Gebrauch stimulierender Drogen wie Alkohol, Tabak, Medikamente oder mehr, die wachsende Menge an Unerledigtem, zunehmende Fehlzeiten am Arbeitsplatz, sozialer Rückzug sowie stressbedingte Unfälle auf den sich anbahnenden Absturz hin. „Mehr Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst“, für Lattmann ist das der beste Schutz vor dem tiefen, aber eben oft auch völlig unnötigen, vermeidbaren Fall in den Burnout.
Selbstkritische Fragenliste
Er rät, sich selbstkritische Fragen zu stellen: Wie esse ich? Hastig, nebenbei oder in Ruhe, auf die Mahlzeit konzentriert? Wie arbeite ich? Strukturiert, planvoll, ohne Angst vor einem gelegentlichen klaren Nein oder stets von dem Momentanen, häufig erkennbar Überflüssigen oder Nachrangigen gesteuert? Wie gestalte ich meine Freizeit? In der Fortsetzung der Hektik des Berufsalltags oder bewusst dazu regenerierende Gegengewichte setzend? Wie sehen meine Beziehungen zu anderen aus? Hält sich Geben und Nehmen, Anspruch und Eigenleistung, Aufbegehren und (selbstkritische) Nachsicht die Balance? Wie halte ich es mit zeitgeistigen Vorstellungen? Trotte ich brav im Mainstream des allgemein Angesagten, muss ich überall dabei sein oder gestalte und lebe ich mein eigenes Leben?
Burnout ist kein Krankheitsbild, sondern eine krankmachende Entwicklung. Mit den Parallelen von Burnout und chronischen Schmerzen befassen sich Spezialisten beim Deutschen Schmerzkongress in Mannheim.
„Burnout an sich ist kein Krankheitsbild, sondern eine krankmachende Entwicklung“, ist der Schweizer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Toni Brühlmann überzeugt. Der Burnout-Prozess – von Patienten häufig als Erschöpfungsprozess beschrieben – kann nach Ansicht des Mediziners in verschiedene psychiatrische Krankheitsbilder hineinführen. Im Zentrum steht eine gestörte Stressverarbeitung, aber auch der Verlust des tragenden Lebenssinns. „Beide Aspekte sollten in einer Therapie berücksichtigt werden. Der Patient muss sich seiner eigenen Werte wieder bewusst werden und Verantwortung dafür übernehmen“, so der Experte.
Auch chronische Schmerzen sind häufig gekoppelt an Stress und emotionalen Beeinträchtigungen wie Ängste und Depressionen. „Es gibt deutliche Parallelen zum Burnout-Syndrom, wobei der Stress beim Burnout übermäßig antreibend, bei der Depression übermäßig bremsend wirkt“, erklärt Brühlmann.
Akzeptanz – nicht Resignation
Bei der multimodalen Schmerzbehandlung wie auch bei der Behandlung stressbedingter Symptome haben sich Akzeptanz und Achtsamkeit als wirksame Strategien erwiesen. Der Patient lernt durch sogenannte „Achtsamkeitsübungen“, sich nicht-wertend mit Schmerz und Stress auseinanderzusetzen und entwickelt so eine Haltung der Akzeptanz. Dadurch sinkt die Tendenz, Kontrolle ausüben oder vermeiden zu wollen, wodurch eine Umorientierung auf die eigenen Werte unterstützt werden soll.
„Akzeptanz darf allerdings nicht mit Resignation verwechseln werden“, betont der Psychologe Joachim Korb aus Mainz. „Achtsamkeitsübungen können dem Einzelnen eine wirksame Hilfe bei Stress, Burnout und Schmerzen sein, jedoch darf man ihm nicht die ganze Verantwortung für seine Situation aufbürden. Notwendige Veränderungen im Arbeitsleben bedürfen auch gesellschafts- und sozialpolitischer Antworten“, lautet das Fazit von Korb.
Die Grenzen zwischen Burnout und Depression sind fließend, meint der Psychiater und Psychotherapeut Christian Simhandl
Nicht jeder Mensch, der mit seiner Arbeitssitutation unzufrieden ist, leidet an einem Burnout. Ein Gefühl des Ausgelaugtseins genügt nicht für eine Diagnose. Der Psychiater und Psychotherapeut Christian Simhandl im Gespräch mit Eva Tinsobin.
derStandard.at: Inwieweit sind Sie als Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut mit dem Burnout-Syndrom konfrontiert?
Christian Simhandl: Die Zahl der Patienten, die sich wegen „Burnout“ melden, steigt ständig. Es kommt auch vor, dass sich Patienten an mich wenden, die schon einmal die Diagnose Burnout hatten und eine Psychotherapie gemacht haben, dann den Job oder den Partner gewechselt haben und sich nun fragen, wieso sie „schon wieder so etwas haben“. Dann gilt es abzuklären, ob es sich nicht um eine wiederkehrende Depression handelt, welche von der betroffenen Person als „Burnout“ empfunden wird.
derStandard.at: Wann spricht man von einem Burnout?
Christian Simhandl: Burnout wird in der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (ICD) als „Ausgebranntsein“ und „Zustand der totalen Erschöpfung“ mit dem Diagnoseschlüssel Z73.0 erfasst: „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“.
derStandard.at: Ähnelt diese Beschreibung des Burnout denen einer Depression? Sind Ihnen dazu statistische Daten bekannt?
Simhandl: Ich bin der Meinung, dass weite Teile der Depression als Burnout benannt werden. Nach der ICD-Einstufung ist Burnout eine Rahmen- oder Zusatzdiagnose und keine Behandlungsdiagnose, die zum Beispiel die Einweisung in ein Krankenhaus ermöglichen könnte. Daher gibt es auch keine Statistiken.
derStandard.at: Leiden immer mehr Menschen an Burnout? Oder wird es heute immer öfter diagnostiziert, weil es vor einigen Jahrzehnten noch nicht „erfunden“ war?
Simhandl: Vor einigen Jahrzehnten wurde auch die Depression nicht diagnostiziert. Der Begriff Burnout ist den Betroffenen oftmals um vieles verständlicher und drückt ihr Erleben aus. So suchen sie eher Hilfe beziehungsweise fühlen sich auch eher verstanden, wenn man von Burnout spricht und nicht von Depression.
derStandard.at: Ist die Depression eine „Volkskrankheit“?
Simhandl: Depression ist eine Volkskrankheit mit einer Häufigkeit von über zehn Prozent in der Allgemeinbevölkerung. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit erhöht das Auftreten von depressiven Erkrankungen, nicht zuletzt deshalb, weil in allen Berufssparten die Anforderungen steigen.
derStandard.at: Wird ein Burnout zu schnell diagnostiziert, beziehungsweise besteht die Gefahr von Fehldiagnosen?
Simhandl: Manchmal werden die Ursachenzuteilung und die Beschreibung des Zustandes verwechselt. Burnout im engeren Sinne hat nur mit der Arbeitssituation zu tun. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das nicht mehr unterschieden, und das Gefühl des Ausgelaugtseins genügt für die Diagnose. Aber nicht jeder Mensch, der mit seiner Situation am Arbeitsplatz unzufrieden ist, leidet an einem Burnout. Burnout kann bei lang andauernder Belastung, fehlender Erholung, und auch fehlendem Schlaf hervorgerufen werden.
derStandard.at: Das heißt, nicht nur Depressionen können als Burnout verkannt werden sondern ebenso die Unzufriedenheit im Job?
Simhandl: Unzufriedenheit ist Unzufriedenheit. Bei den Burnout-Untersuchungen eruierte man Veränderungen am Arbeitsplatz im Sinne einer Veränderung der Schwerpunkte in der Unternehmensführung und mehr Arbeit von weniger Personen. Am Beispiel von Banken: Menschen müssen Bankprodukte verkaufen, von denen sie mittlerweile wissen, dass sie nicht besonders krisensicher sind. Sie können nicht mehr dahinter stehen, der Betrieb verlangt es aber. Oder im Sozialbereich: es wird mehr dokumentiert und weniger mit den Menschen gesprochen. Oder sie überfordern sich selbst über einen längeren Zeitraum für eigene Karrierevorstellungen, die der Arbeitgeber aber nicht als solche sieht.
derStandard.at: Woran erkennen Sie den Unterschied zwischen Burnout und Depression?
Simhandl: Ich erkenne den Unterschied am Verlauf. Beim Burnout wird alles abgewertet, oft in Form von Zynismus, der bei einer Depression nicht vorkommt. Die Entwicklung gehrt üblicherweise über einen längeren Zeitraum mit ständiger beruflicher Belastung, die als Überbelastung mit vermehrtem Einsatz empfunden wird. Die Depression ist klar definiert, ich muss die richtigen Fragen stellen, etwa nach Vorerfahrungen in dieser Art: ob jemand in der Familie auch so eine Anfälligkeit gezeigt hat, wie die zeitliche Entwicklung der Beschwerden und der Schweregrades der Beschwerden war, ob jemand perfektionistisch oder ordnungsliebend ist. Eine wichtige Frage ist auch: Hat sich die Arbeit verändert, oder haben sie sich verändert?
derStandard.at: Ist überhaupt eine klare Abgrenzung zwischen Burnout und Depression möglich?
Simhandl: Am Beginn ja, in voller Ausprägung besteht aber kein Unterschied mehr zwischen einem Burnout und einer typisch depressiven Episode. Bei beiden ist auch die suizidale Einengung eine therapeutische Herausforderung.
derStandard.at: Wie wirkt sich eine Fehldiagnose auf Patienten aus?
Simhandl: Es kommt im Rahmen einer Fehldiagnose in dem Sinne, dass ein Burnout festgestellt wird vor, dass der Arbeitsplatz gewechselt wird und zwei Jahre später tritt dieselbe Situation des Ausgebranntseins auch auf dem neuen Arbeitsplatz wieder auf. Das hat dann eher mit der Person als mit dem Arbeitsplatz zu tun. So verlieren Menschen manchmal langjährige Arbeitsplätze und damit ihre soziale Absicherung.
derStandard.at: Was raten Sie Menschen, die glauben, von einem Burnout betroffen zu sein?
Simhandl: Ich rate dazu, den Hausarzt zu fragen mit welchem Psychiater und/oder Psychotherapeuten er zusammenarbeitet und gute Erfahrung in Diagnostik und Therapie gemacht hat. Es gibt in Wien das Institut für Burnout und Stressmanagement, aber eine Therapie bieten alle Psychotherapeuten an, die in Österreich diagnostizieren und therapieren dürfen. Es ist wichtig die Lebensführung und beruflichen Erwartungen genauer anzusehen.
derStandard.at: Wie ist ein Burnout behandelbar?
Simhandl: Am Beginn steht die Diagnostik, unter anderem auch mit der Abklärung, wie die betroffene Person selbst ihre Situation sieht. Ebenfalls abgeklärt werden muss, welche Erwartungshaltungen es gibt. Ich empfehle eine Psychotherapie, wenn die Probleme nur den Arbeitsplatz betreffen und der Schweregrad nicht zu weit fortgeschritten ist. Die Verschreibung von Medikamenten ist notwendig, wenn zusätzlich das Vollbild einer typisch depressiven Episode vorliegt.
derStandard.at: Wenn man tatsächlich an einem Burnout leidet, können Sie sagen, wie lange es etwa dauert, bis man wieder einsatzfähig ist?
Simhandl: Es gibt Empfehlungen von einem halben Jahr in der älteren Literatur. In der kombinierten Behandlung von wöchentlicher Psychotherapie und, falls sinnvoll, antidepressiver Medikation gehe ich von einem Zeitrahmen von sechs bis zwölf Wochen aus.
derStandard.at: Was empfehlen Sie Ihren Kollegen im Hinblick auf ein korrekte Diagnose?
Simhandl: Ich kann jedem empfehlen, die Erwartungshaltungen der Patienten die berufliche Situation betreffend genauer zu hinterfragen.
Wer die eigenen Bedürfnisse hintanstellt, kann in einen Teufelskreis aus Überlastung und Erschöpfung geraten
Sie fühlen sich ausgelaugt und erschöpft, sind ständig unter Strom und gereizt und können auch nach Dienstschluss oder am Wochenende nicht zur Ruhe kommen. Burnout nennt sich das Phänomen, das heutzutage in aller Munde ist und nicht nur Top-Manager trifft. „Jeder kann davon betroffen sein“, so der Klinische- und Gesundheitspsychologe Boris Zalokar, der auch im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologe tätig ist. Besonders gefährdet sind Menschen, die unter Doppel- und Mehrfachbelastungen leiden.
„Ein Burnout entsteht nicht von heute auf morgen, sondern über einen längeren Zeitraum, über Wochen oder Monate hinweg“, betont der Psychologe und differenziert das Erkrankungsbild von wiederkehrenden Stresszuständen und einmaligen Überlastungen. Körperliche und psychische Erschöpfung, eine psychische Leere und das sogenannte Depersonalisationsphänomen, das durch Zynismus und abwertende Haltung gegenüber anderen Menschen und dem eigenen Umfeld gegenüber gekennzeichnet ist, sind typisch für das „Ausgebranntsein“. Dazu kommt ein massiver Leistungseinbruch, während die eigenen Freunde und Familie immer mehr zu „Zeit- und Energieräubern“ mutieren.
Eigene Bedürfnisse im Hintergrund
„Häufig kommt es zu einem frühen Verlust der Wahrnehmung eigener Bedürfnisse. Der Kontakt zu sich selbst geht verloren,“ beschreibt der Psychologe, was ein Burnout im Detail mit dem Individuum Mensch macht. All das passiert am Anfang schleichend und unbemerkt, mit der Zeit nimmt jedoch die körperliche und seelische Erschöpfung und Vernachlässigung zu. Auf die Frage nach den eigenen Sehnsüchten und Wünschen fällt den Betroffenen am Höhepunkt ihrer Erkrankung nicht mehr viel ein.
Die Ausbeutung der eigenen Persönlichkeit nimmt ihren Lauf. Das Wort „Nein“ existiert nicht mehr und die Kollegenschaft freut sich darüber, dass die Arbeit so klaglos und uneingeschränkt übernommen wird. Dass sich hinter diesem Nicht-Nein-Sagen-Können der Wunsch nach mehr Anerkennung und Wertschätzung verbirgt, ist den Betroffenen in ihrem eigenen Handeln gar nicht bewusst. Das geringe Selbstwertgefühl wird zum inneren Motor und wenn das ersehnte Lob kommt, dann fällt das Nein-Sagen beim nächsten Mal umso schwerer.
Sensibilisierungsarbeit
Hilfe von anderen lehnen ausgebrannte Menschen aber ab. „Sie wollen den Druck, den sie im familiären oder beruflichen Umfeld haben, aushalten. Ganz nach dem Motto: Ich muss funktionieren,“ erklärt der Psychologe den Grund, warum viele Betroffene erst dann Hilfe in Anspruch nehmen, wenn der Leidensdruck eigentlich schon zu groß ist. Aufhalten lässt sich diese Entwicklung mit Hilfe von Prävention durch Sensibilisierung, so der Experte. Er will das „Darüberreden“ enttabuisieren, auch um die Angst vor Stigmatisierung zu reduzieren. Werden beginnende Schlafstörungen und Spannungszustände richtig interpretiert, dann lässt sich ein maximaler Erschöpfungszustand mit einer professionellen Behandlung noch aufhalten.
Die therapeutischen Möglichkeiten sind gut aber teuer. Zwar gibt es in Österreich Zuschüsse von den Krankenkassen, die verbleibenden Kosten sind für viele Patienten aber trotzdem unerschwinglich. „Viele Betroffene weichen daher auf niederschwelligere Angebote aus, bräuchten aber eigentlich andere therapeutische Angebote,“ so Zalokar.
Wege aus der Erschöpfung
Einen Gang runter zu schalten oder einfach mal entspannen sind da zwar gut gemeinte aber wenig hilfreiche Ratschläge. Denn gerade mit dem “ Abschalten“ tun sich die Betroffenen schwer. Zalokar plädiert für einen behutsamen Zugang: „Das ist für viele zu konfrontativ – so wie wenn ich von Hundert auf Null abbremsen würde.“ In der psychologischen Beratung lernen die Patienten deshalb Zugang zu den eigenen Bedürfnissen zu finden, Prioritäten und Grenzen zu definieren, um dem Teufelskreis aus Mehrfachbelastung, Leistungserwartung und Erschöpfung erfolgreich zu entkommen.
Ständige Erreichbarkeit und Überstunden führen zum „Burn Out“. Experten in Deutschland fordern deshalb: „Flexibilität muss ihre Grenzen haben“
Berlin – Ständige Erreichbarkeit, Überstunden, wechselnde Arbeitsorte und lange Anfahrtswege: Wachsende berufliche Flexibilität belastet laut einer Studie zunehmend die Psyche der Arbeitnehmer. Die Folge seien Erschöpfung, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und „Burn Out-Syndrom“, wie aus dem neuen Fehlzeiten-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervorgeht.
Arbeits- und Freizeit verschwimmen
Der am Donnerstag in Berlin vorgestellten Erhebung zufolge bekam mehr als jeder dritte Erwerbstätige in einem Zeitraum von vier Wochen häufig Anrufe oder E-Mails außerhalb der Arbeitszeit (33,8 Prozent) oder leistete Überstunden (32,3 Prozent). Auch Arbeit mit nach Hause zu nehmen (zwölf Prozent) oder an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten (10,6 Prozent) stellt demnach längst kein Randphänomen mehr dar. Nahezu jeder achte Beschäftigte gab an, dass er Probleme mit der Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit hat (13,2 Prozent) oder wegen beruflicher Verpflichtungen Pläne für private Aktivitäten ändern musste (12,8 Prozent). Immer mehr Beschäftigte nehmen dem Report zufolge lange Fahrtzeiten zu ihrem Arbeitsplatz in Kauf. Je weiter dieser weg ist, desto höher ist die Zahl der Fehltage.
Psychische und physische Beschwerden
Insgesamt klagt mehr als jeder fünfte Befragte über Erschöpfung (20,8 Prozent) oder gab an, dass er in der Freizeit nicht abschalten kann (20,1 Prozent). Auch Kopfschmerzen (13,5 Prozent) oder Niedergeschlagenheit (11,3 Prozent) werden genannt. Um nahezu das 9-fache sind die Krankheitstage zwischen 2004 und 2010 wegen „Burn Out“ angestiegen. Insbesondere Frauen und Menschen in erzieherischen und therapeutischen Berufen sind von davon betroffen. Der Report basiert auf einer Umfrage unter Beschäftigten sowie den Krankmeldungen von 10,8 Millionen AOK-Beschäftigten des vergangenen Jahres.
Das Gehirn ist ein veränderbares Organ, das verstärkt darauf reagiert, was es emotional verarbeitet. Wir bringen dann gute Leistungen und lernen gern, wenn es Freude macht. Ein Gefühl, das wir in den Organisationen leider viel zu selten finden.
Die neueste Gehirnforschung, voran der Neurobiologe Gerald Hüther, vermittelt uns, dass unser Gehirn ganz anders funktioniert, als wir bisher vermutet haben. Das Gehirn ist ein veränderbares Organ, das verstärkt darauf reagiert, was es emotional verarbeitet. Wir bringen dann gute Leistungen und lernen gern, wenn es Freude macht. Ein Gefühl, das wir in den Organisationen leider viel zu selten finden.
Mit jedem Ereignis, das mit Gefühlen verbunden ist, entsteht ein „Abdruck“ im Gehirn, eine Vernetzung von Nervenzellen, die erneut abgerufen werden kann und sich mit früheren Erinnerungen verschaltet. Wenn wir in einem bestimmten Gefühlszustand sind, dann erinnern wir uns an Situationen, die ähnlich gefühlsmäßig geladen sind. Etwa wenn wir auf Kollegen oder Chefs wütend sind, dann fallen uns ähnliche Situationen ein, die auch mit Wut zu tun haben. Das gilt ebenso für Freude.
Wann Alarmglocken läuten
Was können solche Schlüsselsituationen in Organisationen sein, die besonders prägend wirken? Beispielsweise Zugehörigkeit zum System – dazuzugehören ist ein menschliches Bedürfnis, und immer wenn es auf dem Spiel steht, läuten unsere emotionalen Alarmglocken.
Stellen wir uns vor: Wir sind auf Dienstreise oder in einem anderen Gebäudekomplex auf Zeit beschäftigt, ein neuer Kollege beginnt in unserer Abteilung, und als wir zurückkehren, merken wir, niemand hat dem Kollegen mitgeteilt, dass wir auch hier beschäftigt sind. Solche Verletzungen finden ständig statt, wir merken sie nicht – bei uns selbst nicht und auch nicht bei anderen. Wir bauen Mauern auf, werden starr, sind weniger achtsam im Umgang miteinander, verlieren unsere Freude an der Zusammenarbeit, und unsere Leistung fällt ab. Wir fragen uns: „Wie konnte das passieren, selbst sehen wir uns als so wichtigen Teil, und dann hat man auf uns vergessen? Wie bedeutsam sind unsere Beiträge? Wie wichtig ist das, was wir einbringen, wenn schon nach so kurzer Zeit darauf vergessen wird?“ Andere merken unseren inneren Dialog nicht – sichtbar wird nur unser abgewandtes Verhalten, eine aggressive Antwort oder Leistungsabfall nach dem Motto: „Wenn sie schon auf mich vergessen, dann muss ich mich gar nicht mehr anstrengen, meine Leistung ist sowieso irrelevant.“
Hilfreich wäre allerdings an dieser Stelle ein anderes Verhalten, die eigene emotionale Befindlichkeit zu teilen, statt sich einzuigeln. Eine Selbstauskunft – zum Beispiel: „Ich merke, dass es mich verunsichert, irritiert, kränkt, dass Herr XY gar nicht wusste, dass ich hier beschäftigt bin.“ – gibt den Kollegen bzw. der Führungskraft die Möglichkeit, daran anzuschließen, den Lapsus aufzuklären oder sogar das Bedauern auszudrücken, dass hier seitens der Führungskraft oder seitens der Kollegen nicht informiert wurde. Ohne Zynismus, ohne Untergriff – frei vom Herzen weg. Achtsam im Umgang miteinander.
Reparieren
Ein Arbeitsklima, in dem das möglich ist – das Reparieren von unglücklich gelaufenen sozialen Situationen – unterscheidet sich wesentlich von der angeblich emotionsfreien, rein rationalen Atmosphäre, wo Meinungen aufeinanderprallen, nichts hinterfragt wird, keine Anerkennung gezeigt wird, jeder vor sich starr hinarbeitet, wo alles im inneren Dialog gelöst wird und nach außen lediglich Abgrenzung oder Aggression sicht- und spürbar werden.
Das Thema der Zugehörigkeit wird aber auch relevant nach vorn gerichtet – beispielsweise bei der Bildung neuer Projektteams, der Reorganisation von Organisationseinheiten oder selbst dann, wenn im informellen Kreis gefeiert wird. Wird eine Entscheidung getroffen, deren Intention für uns nicht klar ist, stellen wir uns im inneren Dialog die Fragen „Wie ist die Auswahl entschieden worden?“, „Warum bin ich nicht dabei?“, „Wieso haben sie mich nicht gefragt, obwohl ich schon so lange dabei bin?“ oder auch „Was erwarten Sie von mir als Neuling unter diesen vielen alten Hasen?“. Dieser innere Dialog bindet Energie und lässt uns weniger leistungsfähig werden.
Eine Summe solcher Ereignisse macht uns stumpf und desinteressiert. Das Offenlegen von Entscheidungsprinzipien und Anerkennung von Bedürfnissen hilft, emotionale Verletzungen zu verringern oder sogar zu vermeiden.
Entscheidungen emotional anders aufnehmen
So könnte ein Satz wie „Im Grunde genommen hätten wir dich fragen müssen, weil du schon am längsten mit an Bord bist – in diesem Fall haben wir uns aber für den Kollegen entschieden, da er ähnliche Situationen schon in seinem letzten Unternehmen gesteuert hat“ bewirken, dass sich Betroffene gesehen fühlen und Entscheidungen emotional anders aufnehmen, als wenn sie eine E-Mail erhalten, in der die Tatsache ohne Hinweis mitgeteilt wird, nach dem Motto: „Sei froh, dass du überhaupt noch dabei bist.“
Je mehr es uns gelingt, die wechselseitigen Bedürfnisse zu erkennen, auch wenn wir nicht danach handeln können, umso mehr entstehen positive Gefühle, basierend auf Anerkennung und Wertschätzung der Einzigartigkeit der handelnden Personen. Zum Beispiel: „Ich weiß, dass du diese Arbeitsaufgabe nicht gern machst – sie ist im Ablauf nötig, ich wünsche mir, dass du dich trotzdem voll konzentrierst und deine beste Leistung bringst.“ Statt: „Stell dich nicht so an, das gehört gemacht, nun mal dalli!“
Unser Gehirn überschreibt die negativen Erfahrungen sukzessive mit positiven. Dort wo Freude, Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung bestehen, macht die Arbeit Freude, was wiederum zu besserer Leistung führt.
Mehr einzahlen als abheben
Bedenken sollten wir allerdings, dass in sozialen Beziehungen nicht die einfache mathematische Rechnung -1+1=0 gilt, sondern für jede kritische, emotional negative Erfahrung zum Ausgleich des emotionalen Bankkontos fünf positive folgen müssen, basierend auf den Ergebnissen der langjährigen Forschungen von John Gottman.
Das wird besonders erkennbar, wenn gestresste Führungskräfte und Kollegen im Arbeitsalltag aufgrund von Zeitmangel die Kommunikation nur auf das Bemerken und Verbessern von Fehlern richten, dann verarmt die Führungsbeziehung beziehungsweise die Beziehung zwischen Mitarbeitern. Tritt dann eine Krise ein, gibt es nur Widerstand und Aggression von beiden Seiten, da das Bankkonto tief im Minus ist.
Achtsamkeit im Umgang miteinander ist der Schlüssel für Leistungsfähigkeit und Produktivität. Glücklicherweise sickert dieses Wissen langsam in die Organisationen und verändert das Bewusstsein der Handelnden nachhaltig.
„Mindfulness“ heißt das Konzept, das große Konzerne wie Goldman Sachs, Nike oder Google ihren total Dauerverkabelten und Dauergestressten anbieten.
Dem unangenehmen Gegenüber ein paar liebevolle Gedanken schicken, um keinen negativen Energiefluss zu befeuern. Sich auf das Hier und Jetzt besinnen. Sich der Betrachtung einer Pflanze widmen und die Agenden loslassen. Augen schließen und nichts tun. Darüber reflektieren, dass Leid Schmerz mal Widerstand ist. – Vor ein paar Jahren wäre damit vielleicht in Esoterikzirkeln etwas zu verdienen gewesen.
Jetzt ist dieses Achtsamkeitskonzept zur Stressreduktion (Mindfulness Based Stress Reduction) in die Hochburgen des Managements eingezogen.
Meditationsgruppen
Goldman Sachs, Nike, Google – sie alle greifen strukturiert auf alte buddhistische Weisheit und Meditationstechnik zurück. Angeboten werden alle Arten von Kursen und Trainings, mit und ohne Yoga-Matte, vom Innehalten vor dem Drücken des Send-Buttons bis zum mehrwöchigen Meditationsseminar. Xing hat mittlerweile Meditationsgruppen, in Österreich hat sich kürzlich ein Symposium an der Sigmund-Freud-Privat-Uni mit Meditation und Führung beschäftigt. Der Büchermarkt für diese Art der Stressbewältigung und Verbindung mit der Natur boomt gerade auch für Paradekarrieristen. Die Suche nach der Gegenwelt erreicht eben in der ultraverkabelten Liga einen öffentlichen Höhepunkt. Denn: Im Geheimen ist schon der ein oder andere bei seinem Meister gewesen. Darüber geredet wurde aber nicht, geschweige denn, dass es offen getan wurde.
Seit Hirnforscher via Kernspintomografie von außen genauer ins Gehirn schauen können und wiederholt gemessen werden konnte, dass Meditierer negativen Stress quasi aus dem Kopf fegen können, über dichtere und neuere Nervenverbindungen verfügen als Nichtmeditierer, sind Antistressprogramme auf Basis buddhistischer Übungen groß anmarschiert.
Das Gehirn genesen lassen
Laufend kommen neue gute Nachrichten aus diesem Bereich mit nachgewiesener Möglichkeit des Umkehrens „neuronaler Verschrumpelung“ durch Meditation – aktuell startet etwa das Max-Planck-Institut ein entsprechendes Forschungsprojekt.
Dass Unternehmen Interesse daran haben, dass die Leute (auch einmal) das Nichtstun lernen sollten, ist verständlich: Der andauernde Stresscocktail im Gehirn macht traurig, vergesslich, zieht eine Reihe von Folgeerkrankungen von verschlechterter Immunabwehr über chronische Schmerzen und Burnout bis zu massiver körperlicher Schädigung nach sich – und wird mittlerweile als Hauptursache der Fehlzeiten inklusive wirtschaftlichen Folgeschadens verantwortlich gemacht.
Unter Dauerstress kann Stress nicht verarbeitet werden, die mentale Aufnahmefähigkeit verringert sich. Leiden unter permanentem biochemischem Alarm sieht auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als bedrohliches Massenphänomen. Vor allem der Job bzw. die Angst um diesen wird in einschlägigen Umfragen und Untersuchungen immer wieder als Stressfaktor genannt – hinzu kommen Zeitdruck, Über- oder Unterforderung, mangelnde Anerkennung, mieses Betriebsklima.
Widerstandskraft stärken
Offenbar ist an diesen schädlichen Rahmenbedingungen in Organisationen und Umwelt schwer zu rütteln – also wird die innere Widerstandskraft der Belegschaften gestärkt. Achtsamkeitsübungen sollen dabei helfen, mit negativen Gedanken und Emotionen positiv umzugehen. Zitat: „Die Achtsamkeit ist wie ein Fels in der Brandung, ein Ort der Zuflucht und der Ruhe in Zeiten des Aufruhrs.“
In dieses Bild des Zurechtlegens alter Werkzeuge für ungesunde Gegenwarten passt auch die bevorstehende Kampagne der Europäischen Gesundheitsagentur ab 2014, die sich dem Stressmanagement widmen wird (www.healthy-workplaces-eu).
Die Tech-Hochburgen wären nicht solche, würden sie nicht schon mit der Umsetzung der Mindfulness ihr schnelles Geschäft betreiben: Im Angebot etwa eine App (www.getsomeheadspace.com) oder eine Seite für ganz Eilige, die meinen, lediglich 60 Sekunden für Achtsamkeit et cetera zu haben (www.whil.com).