Wie und unter welchen Voraussetzungen, haben Neurowissenschafter am Leipziger Max-Planck-Institut nun nachgewiesen

Stress hat einen besonders schlechten Ruf – er gilt als einer der zentralen Krankheitsauslöser. Jetzt ist gemessen worden, dass er auch ansteckend ist: Wer gestresste Leute direkt beobachtet, bei dem steigt selbst der Spiegel des Stresshormons Kortisol deutlich an. Je enger die Gestressten und ihre Beobachter miteinander verbunden sind, desto signifikanter verläuft die hormonelle Stressreaktion bei den Beobachtern.

Wissenschafter des Leipziger Max-Planck-Instituts (Tanja Singer und Veronika Engert) haben gemeinsam mit der Technischen Universität Dresden (Clemens Kirschbaum) Probanden in den „Kampf“ mit schwierigen Rechenaufgaben und unangenehmen Vorstellungsgesprächen geschickt. Bei 30 Prozent der Beobachtergruppe schnellte der Kortisolspiegel ebenfalls in die Höhe, selbst jeder Vierte, der nur via Bildschirmübertragung den Stress mit ansah, schüttete im eigenen Körper ordentlich Stresshormone aus.

Egal ob Frau oder Mann

Wer meint, dass vor allem Frauen solche empathischen Stressreaktionen zeigen, irrt: Mit diesem Vorurteil räumen die Forscher auf.

Apropos: Empathie, Spiegelneuronen, sympathische Reaktionen auf Gesehenes (Herzfrequenz) – das ist gar nicht so neu. Was ist also bahnbrechend an der Stressübertragung? „Dass wir die hormonelle Ausschüttung wirklich messen konnten, ist schon erstaunlich“, sagt Veronika Engert vom Max-Planck-Institut.

Warum sie nicht von der schädlichen Ansteckung mit Disstress spreche? „Heute braucht man gar nicht mehr von Eu- und Disstress sprechen“, sagt sie, die Aufmerksamkeit gelte den schädigenden Langzeitfolgen. Dass er bis zu einem gewissen Maße seinen Zweck als Aktivierer erfülle, setzt sie dabei als bekannt voraus. „Eine hormonelle Stressreaktion hat evolutionär natürlich auch einen Sinn. Wenn Sie einer Gefahr ausgesetzt sind, dann wollen Sie ja auch, dass Ihr Körper mit einem Anstieg des Stresshormons reagiert – damit wir eben fighten oder flighten können.“

 Konstruktiven Umgang finden

Immunsystem und Nervenzellen würden aber bekanntlich durch anhaltend hohen Kortisolspiegel, durch chronischen Stress geschädigt. Menschen in helfenden Berufen und Angehörige von Dauergestressten seien besonders betroffen. Und die Belegschaft im Großraumbüro? „Je mehr Leute, desto mehr brodelt’s natürlich“, so Engert, „aber der Stress hängt nicht in der Luft und wird nicht durch die Klimaanlage übertragen, es geht um das Sehen, das Miterleben.“

Die Lehren aus den Erkenntnissen? Empathie, also das Mitleiden, führe zu Burnout oder Abstumpfung, so Engert, die damit wieder beim Thema Achtsamkeit angelangt ist. Es gehe um Verstehen: Was passiert mit mir und in meinem Körper, wenn ich Gestresste sehe? Dann könne man eigene Anfälligkeiten für die Stressansteckung (ist nicht bei allen Menschen gleich) erkennen und einen konstruktiven Umgang suchen.

 

Glück in der Arbeit erleben wir, wenn wir im Tun komplett aufgehen, alles wahrnehmen, aber das Gefühl für Zeit und Raum verlieren.

 Wie beim Wellenreiten gibt es bei der Achtsamkeit nur einen Zustand: das Sein im Hier und Jetzt. Das ist schwierig, wenn im Job Termine einander jagen, für zu viele Aufgaben zu wenig Zeit bleibt, die Kommunikationserfordernisse steigen, das Telefon ständig läutet und Multitasking eine Grundanforderung darstellt. Manchmal geht es nicht anders, trotzdem ist es fraglich, ob unter diesen Bedingungen entstandene Arbeitsergebnisse immer die besten sind.

Wäre es nicht hilfreich, sich störungsfreie Zeitfenster zu organisieren? Handys und Computer hin und wieder abzudrehen und sich voll und ganz der momentanen Aufgabe zu widmen? Was nützt es, sich Gedanken über einen ärgerlichen Satz von vorhin zu machen oder über die noch zu erledigenden Aufgaben später zu grübeln, wenn Sie gerade mit einem Kunden oder einer Kollegin sprechen, in einer Besprechung sitzen, an einem Konzept feilen oder Ihrer Führungskraft zuhören? Sie vergeuden Ihre eigenen Ressourcen, mit der Gefahr, auch in der nächsten Situation eine Art Schiffbruch zu erleiden – eben weil sie nicht voll und ganz bei der Sache waren.

Im Moment sein

Achtsame Menschen sind in gewisser Weise Dompteure ihrer eigenen Gedanken, Bedürfnisse und Gefühle. Sie verstehen es, nur kurz einen Blick auf ihren Ärger, ihren Neid oder ihre To-do-Liste zu werfen, und sie schaffen es, sich sehr rasch wieder des Positiven zu besinnen. Wer im Moment sein kann, verfügt über ausreichend Ressourcen, sich bewusst der aktuellen Situation zu widmen.

Plötzlich fällt auf, dass es Schweiger in der Besprechung gibt oder aber, dass ein genervter Kunde zur Ruhe kommt, weil man seine Empörung wahrgenommen hat. Was wie ein Zaubermittel klingt, ist erlernbar und bedeutet, eine Metaebene mitzudenken: sich wie von außen Körperhaltung, Emotionen, Tonfall und vieles mehr anzusehen und Schlüsse daraus zu ziehen – bei sich selbst und anderen.

Balance halten

Achtsamkeit ist in gewissem Sinne das Gegenteil von Konzentration. Es gilt ja mich selbst und meine Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen. Interessanterweise überschneiden sich Achtsamkeit und Flow-Erleben. Das Glückserleben im Beruf wurde vom US-Psychologen Mihály Csíkszentmihályi so beschrieben: Glück in der Arbeit erleben wir, wenn wir im Tun komplett aufgehen, alles wahrnehmen, aber das Gefühl für Zeit und Raum verlieren.

Ein Surfer, der die Balance zwischen Körper, Wellen und Brett halten kann, ist ein wunderbares Sinnbild für die Achtsamkeit. Es ist berauschend und macht glücklich, auf der perfekten Welle dahinzugleiten. Und so könnten sich auch viele Momente im Job anfühlen.

 

In den letzten zehn Jahren hat sich der Ansatz der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie in der Behandlung von Depressionen bewährt: das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, um sich von negativen Gedanken zu befreien

 Wer zusammengesunken sitzt wie ein Depressiver, verfällt auch leichter in negative Stimmung, wer aufrecht geht, kann sich besser positive Dinge merken – das Wechselspiel Körper und Seele zeigt sich auch in unserer Körperhaltung.

In den letzten zehn Jahren hat sich der Ansatz der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie in der Behandlung von Depressionen bewährt. Immer gehe es darum, seinen Körper wahrzunehmen, seine Aufmerksamkeit zu lenken, nicht auf die Vergangenheit, nicht auf die Zukunft, sondern auf den einen Moment, der jetzt gerade stattfindet.

 Keine Bewertungen

„Es geht nicht um eine Bewertung, sondern darum, genau von Bewertungen wegzukommen, sie loszulassen. Depressive verfallen ja immer wieder in diese Grübelprozesse und versinken geradezu darin“, sagt Psychotherapeut Johannes Michalak von der Uni Witten/Herdecke.

Die Therapie fängt immer mit einem Element aus der Meditation an. Man liegt auf dem Boden und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Zehen. Dann lässt man sie durch den ganzen Körper wandern. Oder man sitzt und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Atmung und immer, wenn man mit seiner Aufmerksamkeit abschweift, kehrt man wieder geduldig zur Atmung zurück, so Michalek.

Diese fokussierte Achtsamkeit könne helfen, das beginnende Abdriften zu negativen Gedanken deutlich wahrzunehmen und sich durch das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt wieder davon zu lösen, so der Psychotherapeut.

 Verändertes Gangbild

Wie Körper und Seele zusammenhängen, erforscht Michalak auch grundlegend. Mit einem Kollegen aus Kanada filmt er mit Infrarot-Kameras etwa Gangmuster. „Wir haben uns für die Bewegungsmuster von Depressiven interessiert und diese mit einer komplexen Technologie analysiert“, so Michalak.

In einer Nachfolgestudie haben die Forscher dann über technische Feedbacksysteme Studierende mit Hilfe dieser Daten dazu gebracht, entweder fröhlicher oder depressiver als normal zu gehen. Die Ergebnisse: Wer mit hängenden Schultern dahinschlurft, wird sich bei einem unangekündigten Test der Merkfähigkeit eher an negative Dinge erinnern, wer fröhlich läuft, kann sich eher positive Dinge merken.

Auch bei Menschen, die in einem Krankenhaus wegen ihrer akuten Depression behandelt wurden, ergab eine Studie ein ähnliches Bild: Wer zusammengesackt sitzt, kann sich bei einem Gedächtnistest eher die negativen Worte merken, wer aufrecht sitzt, mehr positive.

 Direkte Rückkopplung

„Wir möchten in einer neuen Studie die Gangart von depressiv erkrankten Menschen durch Schulungen und Rückkopplungen mithilfe elektronischer Geräte verändern, damit sie lernen, nicht depressiv zu gehen – und sehen, ob das das dann langfristig auch ihre Depressionen lindern kann.“

Jedenfalls gehen die Forscher von der Annahme aus, dass Körperhaltung und seelisches Befinden sich direkt und in beide Richtungen beeinflussen. „Das ist ein bisschen so wie mit Henne und Ei – schwer zu sagen, was eher da war.“

 

 

Neuropsychologin Tania Singer vom Max Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig: Unser Verhalten basiert nicht nur auf Kosten-Nutzen-Rechnungen.

Mentales Training kann das Gehirn selbst verändern: Diesen Schluss zieht die Neuropsychologin Tania Singer vom Max Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig aus den Ergebnissen des groß angelegten „ReSource“-Projekts. 160 Menschen wurden von ihr Monate lang täglich in Stressreduktion, Achtsamkeit und Mitgefühl „trainiert“.

„Das Gehirn wird oft missverstanden – als biologisch und genetisch festgelegt“, sagt Singer. „In Wahrheit ist es wie ein Schwamm, ein Abbild unserer Lernprozesse.“ Die neuronalen Netzwerke, die man als zuständig für soziales Erleben und Verhalten identifiziert hat, können durch gezielte Übungen gestärkt werden, ähnlich wie ein Muskel.

 Das Projekt

Nicht zuletzt ein hoch dotierter EU-Forschungspreis (ERC-Starting Grant) machte es möglich, diesen Trainingseffekt umfassend zu untersuchen: Mehr als 100 Mitarbeiter, darunter 20 Forscher und 20 Lehrer wirkten in den vergangenen zwei Jahren daran mit, die Probanden zu schulen, zu befragen und zu testen. Tägliches mentales Training in drei Modulen zu je drei Monaten absolvierten die Teilnehmer – von der „säkularen Meditation“ über „empathisches Zuhören“ bis zur „kontemplativen Dyade“ – und in ihren körperlichen und geistigen Entwicklungen beurteilt.

„Unser Ansatz ist multi-methodisch, für jedes Konstrukt haben wir verschiedene Maße“, so die Direktorin des Max Planck-Instituts. „Subjektiv und objektiv, bewusst und unbewusst“, Fragebögen und Beobachtungen, implizite Computerspiele und ökonomische Gruppenspiele, nach jedem Modul eine Kernspintomografie, die sowohl strukturelle wie funktionelle Parameter des Gehirns darstellt. „Wir beobachten dabei das ganze Gehirn“, sagte Singer. Die emotionalen und die kognitiven Komponenten des „sozialen Gehirns“ – also Empathie und Mitfühlen auf der einen und die Perspektivübernahme auf der anderen Seite – sind dabei klar voneinander zu trennen und werden auch mit unterschiedlichen Übungen trainiert.

„Für jedes einzelne dieser neuronalen Netze konnten wir die Veränderungen beobachten.“ Abschluss und Publikation der Ergebnisse stehen noch aus, doch klar ist für die Forscherin schon jetzt: „Es hat super geklappt.“ Das soziale Gehirn erweise sich als höchst plastisch, das Training schlage an. Parallel zu den neuronalen Änderungen spielen sie sich aber auch auf anderen Ebenen ab, die bei „ReSource“ gleichberechtigt erfasst werden, darunter das subjektive Empfinden, der Hormonhaushalt, das Immunsystem und natürlich das Verhalten.

Nicht immer stimmen die Maße überein, so schätzen sich manche in Fragebögen als besonders prosozial ein, ohne dass dies in objektiven Maßen zu beobachten wäre, berichtet Singer. Subjektiv lässt sich durch das Training auch die Stressreduktion schon früher wahrnehmen, als dies auf der hormonellen Achse zu bestätigen ist. Doch insgesamt bewegen sich Körper, Geist und Verhalten gemeinsam hin zum „besseren“ Menschen: der mitfühlt, sich hineindenkt, kooperativ, achtsam und präsent ist – und glücklicher.

Biologische Grundlagen

Stellt sich die Frage: Sind wir diese guten Menschen – oder müssen wir uns dazu machen? Ihre nächstes großes Projekt will Singer Kindern widmen, um herauszufinden, wann und wie diese prosozialen Eigenschaften sich entwickeln. „Grundsätzlich hat jeder ein ‚care‘ und ‚affiliation system‘, sogar Ratten.“ Das Sich-kümmern und Sich-verbunden-fühlen ist evolutionär notwendig und wird etwa in der Forschung zum Bindungshormon Oxytocin auch im Tierreich beobachtet. „Das ist nichts Esoterisches“, betont Singer. „Diese grundsätzlichen biologischen Motivationssysteme gibt es, darauf bauen wir auf.“

Dass bei einer Mutter, die ein Foto ihres Neugeborenen sieht, neuronale Muster von Fürsorge aktiviert werden, ist biologisch angelegt. Doch Singer will mehr und spricht von „globalem Mitgefühl“. Mitgefühl also mit Menschen, die man nicht kennt, die man vielleicht sogar ablehnt, weil sie nicht zur eigenen Religion oder Ethnie gehören. „Um dieses Ingroup-Outgroup-Verhalten zu überwinden braucht man wahrscheinlich neokortikale Strukturen „, so Singer, also solche, die Verhaltenskontrolle ermöglichen. Und man braucht, davon ist die Forscherin überzeugt, ein anderes Menschenbild, auch und gerade im Wirtschaftsleben.

 Ökonomische Sicht „völlig veraltet“

„Das Rückgrat der Makroökonomie – das Modell des Homo Economicus – ist völlig veraltet“, betont Singer. Die Annahme, dass der Mensch vor allem nach seiner eigenen Kosten-Nutzen-Rechnung funktioniert und sich am Befriedigen seiner Bedürfnisse orientiert, lasse „zahlreiche Motivsysteme außer Acht“ und bedeute eine „extrem einseitige Sicht der menschlichen Natur“. Status- und Machtmotivation, Aggression und Angst, aber eben auch Fürsorge und Zugehörigkeit können mindestens genauso starke Motive für Handlungen sein – „gleichzeitig können Sie bei jeder Person zu jeder Tageszeit wechseln“.

Welche dieser Potenziale von einer Gesellschaft verwirklicht werden, sieht Singer als Resultat eines gemeinsamen Verstärkungsprozesses, in den man durchaus eingreifen könnte. „Wir könnten uns von einer individualistischen Gesellschaft zu einer kooperativen bewegen.“ Gemeinsam mit dem Mathematiker Dennis Snower hat Singer deshalb „Caring Economics“ ins Leben gerufen. Neue Modelle menschlichen Entscheidungsverhaltens werden dabei entwickelt, aber auch konkrete Vorschläge dafür, wie die Institutionen einer solchen „fürsorglichen Wirtschaft“ aussehen müssten.

 

„Mach nicht einfach weniger, sondern mach mehr“, schreibt Therapeutin Helen Heinemann und gibt Tipps für anstrengende Zeiten.

 Achtsamkeits-Seminare, Zeitmanagement-Kurse und Stress-Reduktionstrainings. CDs mit Urwaldgeräuschen, Burnout-Yoga, Lachtherapie. All das soll vom lästigen Gefühl der Überforderung befreien, entspannen, entlasten, ablenken. Zur Nachbehandlung gibt’s Apps für einen gesunden Schlaf – und Digitalentzugskuren, die auch die durch diese Devices entstandene Belastung unmittelbar eliminieren und ausbalancierte, produktive – und glückliche Mitarbeiter hervorbringen sollen. Aber geht die Rechnung auf?

Nein, sagen Experten schon länger – Psychotherapeutin Helen Heinemann setzt noch eins drauf: mit ihrem neuen Buch „Warum Stress glücklich macht“. Darin schreibt sie: „Ich glaube nicht daran, dass Stress das Gegenteil von Glück ist. So einfach ist es nicht.“

 Adrenalin, Endorphine, „Sinn“

Wenn man sich erst einmal damit beschäftige, was den meisten Menschen an ihrem Beruf liegt, würde man schnell erkennen, dass er ihnen das Gefühl des Gebrauchtwerdens gebe, ihrem Dasein einen „Sinn“ verleihe, meint Heinemann. Stress sei also zunächst ein Zeichen dafür, dass etwas Bedeutung für uns habe. Ein stressfreies Leben sei folglich keineswegs ein glückliches Leben.

Um ihre These zu untermauern, führt Heinemann Situationen ins Treffen, in denen es Menschen „unter Aufgebot all ihrer Kräfte“ besonders gut gehe. Vom Bungeejumper, der sich an einem Gummiseil mehrere hundert Meter in die Tiefe stürzt, ist ebenso die Rede wie von der Journalistin, die erst kurz vor Redaktionsschluss mit einem Artikel fertig wird.

Verantwortlich dafür, dass beide in diesen vermeintlich brenzligen Situationen Hochgefühle empfänden sei ein bestimmter Bereich im Gehirn: das „Mandelkern-Pärchen“, im Wissenschaftsjargon Amygdala genannt. „Sieht sich der Mensch mit einem plötzlichen Ereignis, einem Reiz, einer besonderen Herausforderung oder Gefahr konfrontiert“, schreibt Heinemann, „schlägt die Amygdala Alarm – und sorgt dafür, dass der Körper sofort einen ganzen Hormoncocktail ausschüttet.“ Adrenalin schießt ein, Endorphine werden freigesetzt, eine Art körpereigenes Morphium: „das verursacht, dass wir uns zunächst einmal sehr wohl fühlen, wenn wir Stress haben.“

Aktiver vs. passiver Stress

In Seminaren habe sie oft von Teilnehmern gehört, dass die Situation, in der diese sich in den letzten Monaten am glücklichsten fühlten, eine Situation war, in der sie besonders viel innerhalb kürzester Zeit leisten mussten, schreibt Heinemann. „Ob uns eine Arbeit stresst oder nicht, liegt also nicht an der Arbeit an sich, sondern in der Beziehung, die wir zu dem haben, in das wir unsere Energie stecken.“ Wenn uns etwas gelingt, seien wir happy. Erst unter bestimmten Voraussetzungen schade Stress.

Wichtig sei daher, zwischen positivem und negativem Stress zu unterscheiden – zwischen aktivem und passivem Stress. „Passiver Stress herrscht dann, wenn ich unter Dingen leide, die ich angeblich zu tun habe.“ Das könne eine „sinnlose Telefonkonferenz“ am Donnerstagnachmittag sein, ebenso wie ein Familyevent als wöchentlicher Fixtermin. Passiver Stress, das sei jener Stress, der uns fertig mache.

Aktiven Stress würden wir dann erleben, wenn wir Dinge voran treiben, „voll und ganz in unserer Arbeit aufgehen“. „Er bietet die Möglichkeit zur Entfaltung, lässt uns Anerkennung und Wertschätzung erfahren.“ Genau auf diesen Stress gelte es, zu setzen.

Wozu?

Wie das gelingen kann? Indem wir uns fragen, wozu wir Dinge tun, rät Heinemann, und „indem wir von Tag zu Tag neu entscheiden“. Ist es wirklich zielführend, wenn wir um 23 Uhr Firmenmails checken? Muss es dabei bleiben, dass wir jeden Freitag die Wohnung putzen? Wäre es nicht viel schöner, aus dem scheinbaren Zwang auszubrechen und den Tag spontan, nach den eigenen Regeln, zu gestalten? „Die Frage nach dem Wozu gibt mir auch die Freiheit, mich von unnützen Dingen zu verabschieden. Das sind oft genau die, die mich negativ stressen.“

Umgekehrt könne die „Wozu“-Frage auch helfen, sich wieder mehr für den Job erwärmen zu können. Arbeit – jede Arbeit – sei für Kollegen, für Kunden, für einen selbst von Wert. Heinemann: „Erst wenn wir uns diesen Wert einer Handlung klarmachen, gewinnt sie an Bedeutung und kann uns Erfüllung schenken.“ Durch die Wozu-Frage gewinne man Weitsicht. Sie entlaste. „Und es kann sogar die Erkenntnis kommen: Der Job muss mich nicht unbedingt glücklich machen – das ist nicht seine Aufgabe. Lassen Sie sich darauf ein.“

 Grenzen setzen und loben

Ebenfalls wichtig für einen guten Umgang mit negativem Stress: „Sich klarzumachen, was wirklich von Ihnen wirklich erwartet wird“, schreibt Heinemann. „Ein Großteil dessen, was wir an Erwartungen spüren und auszufüllen versuchen, ist eine reine Vermutung von uns.“ Ein Nein könne helfen, eine Grenze zu ziehen, für sich selbst und die anderen.

Durststrecken in punkto Lob und Anerkennung – die ebenfalls für gute Gefühle sorgen – könnten überwunden werden durch das Bewusstmachen der eigenen Leistung, das Sich-selbst-Lieben, -Achten und -Ehren. Für einen Wandel der Unternehmenskultur insgesamt könne auch die Wertschätzung eines Kollegen zuträglich sein. Heinemann: „Man kann darunter leiden, dass es keine Anerkennung gibt. Oder es ändern.“ Gefragt sei ein wenig Mut. „Wenn ich mich erst traue, dem anderen seinen Wert zu zeigen, ist der Anfang gemacht, dass ich auch meinen erfahre.“

 „Mach mehr!“

„Stressabbau wird oft als die Anleitung zum ‚Runterkommen‘ gelehrt“, schreibt Heinemann abschließend. „Ich finde das Gegenteil ist richtig: Mach nicht einfach weniger, sondern mach mehr! Lebe mehr von dir selbst.“

Letztendlich braucht es offenbar also doch die Arbeit (im Job und an uns selbst), das Gefordertsein, und hie und da sogar ein wenig Überforderung. Selbst wenn Burnout-Yoga und Co. tatsächlich wirken würden, sei die erzielte Entspannung vielleicht für eine gewisse Zeit ganz angenehm, wie Heinemann schreibt, werde dann aber schnell langweilig. „Wäre der Stress im Nu weg, wäre das das Schlimmste, was uns passieren könnte.“ (lib, Der Standard, 27.8.2015)

 

Bessere Gesundheit durch mehr Achtsamkeit – der Weg zur „caring company“. Wie aber kann individuelle, wie kollektive Veränderung gelingen?

Achtsamkeit – das mögen manche als eine Mode unter überarbeiteten Menschen abtun. Berater, Trainer, Therapeuten und Coaches beschäftigen sich aber zunehmend damit. Und treffen damit einen Nerv, der sich nicht selten als Sehnsucht darstellt, einfach nur einmal beachtet zu werden – mehr auf sich selbst achten zu können und mehr auf andere.

Achtsamkeit, das lässt sich nicht abtun und schon gar nicht der Wunsch danach. „Wenn die Erschöpfung da ist, sind die meisten Menschen schon so abgestumpft, dass sie es gar nicht mehr bemerken“, titelte die FAZ zum Thema Burnout. Da brauche es einen Schlag von außen, den manches Mal der Körper sende.

 Wenn Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen

Psychische Erkrankungen kosten entwickelte Staaten bereits etwa vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes, konnte man im letzten OECD-Bericht zum Thema lesen. Permanente Erreichbarkeit und der zunehmende Workload seien mittlerweile schon ganz alltägliche Herausforderungen, bei denen bekannte Bewältigungsstrategien vielfach nicht mehr helfen. Viele greifen dann zu Medikamenten – die Einnahme von Psychopharmaka aller Art sei eklatant gestiegen.

Ristl bietet unter anderem die „Drei-Schritt-Methode“ an. Diese beginnt mit einer 24-Stunden-Messung der Herzratenvariabilität, bei der die teilnehmenden Personen einen normalen Arbeitsalltag mit einem tragbaren Elektrokardiogramm- Gerät verbringen: Rund 100.000 Herzschläge, Puls und Atemzüge werden gemessen. Parallel dazu wird Protokoll geführt – über Pausen, Fernsehen, Computerarbeit, andere Tätigkeiten oder über die Mahlzeiten, die man zu sich genommen hat. Alles auf einer Liste, die viele staunen mache, sagt Ristl, „viele erschrecken, wenn sie sehen können, womit sie ihren Tag verbringen.“

 Die Sucht nach einem perfekten Leben

Diese Liste gebe Auskunft über individuelle Stressoren, den Umgang damit und darüber, ob Talente nicht an anderer Stelle in der Organisation besser eingesetzt wären. Es sei ein erster Schritt für eine mögliche Veränderung, so die Beraterin. Gerade Perfektionisten und Idealisten gehören zur gefährdeten Gruppe – sie brennen für den Job, bis sie ausbrennen, im permanenten Versuch, sich selbst und der Welt „etwas zu beweisen“, besser und vollkommener zu sein als andere.

Interpretiert wird das als Sucht nach einem perfekten Leben. Perfekt als Chef, die Familie als friktionsfreie Zone mit hübschem Haus und schönem Garten. Wozu schlafen, wozu erholen oder gar reflektieren? Irgendwann bleibt nur die Arbeit – und die ist in zunehmendem Maße nicht mehr bewältigbar.

 Die Suche nach einer perfekten Lösung

Da braucht es etwas, das dieses Vakuum zu füllen vermag: Das Thema Achtsamkeit ist in der Arbeitswelt angekommen und wird schon längst wissenschaftlich beforscht. Welche Auswirkungen haben Achtsamkeitsübungen (Meditation) auf die Konzentration und Kreativität, auf die Gesundheit von Mitarbeitern? Welchen Einfluss hat Achtsamkeit auf die Unternehmenskultur überhaupt? – Diesen Fragen geht etwa eine Studie der Bertelsmann-Stiftung („Die erschöpfte Arbeitswelt. Durch eine Kultur der Achtsamkeit zu mehr Energie, Kreativität, Wohlbefinden und Erfolg!“) nach.

Die Studienautoren fokussieren auf gesundheits- und in der Folge mögliche innovationsfördernde Aspekte. Man schreibe für ein besseres Verständnis immaterieller Vermögenswerte von Unternehmen und zeige Möglichkeiten ihrer Messung und Mobilisierung auf, so die Autoren. Sie fordern ein neues Denken und Handeln, sie fordern einen Kulturwandel:

  1. Gesundheit müsse in Unternehmen zu einem zentralen Zielwert werden. Die Alterung der Gesellschaft lasse auch keinem eine andere Wahl, heißt es da. Gesundheit sei eine elementare Voraussetzung für Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.

Und zwar 2. nicht nur im Sinne einer guten körperlichen Verfasstheit, sondern auch im Sinne einer seelischen. Seelische Gesundheit dürfe kein Tabuthema bleiben. Anhaltende Gefühle der Wut, der Angst oder Hilflosigkeit untergraben Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft und haben negative Auswirkungen auf das jeweilige soziale Umfeld.

Erforscht sei nämlich, 3. dass anwesende Mitarbeiter zwei Drittel gesundheitsbedingter Produktivitätsverluste verursachen. Nicht jeder, der fehle, sei also krank. Und nicht jeder, der anwesend sei, sei gesund.

 4.„Gesundheit“, plädieren die Studienautoren, „darf nicht Privatsache bleiben.“ Einerseits müssen Mitarbeiter mehr Eigenverantwortung übernehmen, andererseits muss aber das Management erkennen, dass Mitarbeitergesundheit auch im ureigenen Interesse eines Unternehmens liege.

Einfach sei die Umsetzung entsprechender Maßnahmen nicht, da 5. hinzukomme, dass die fortschreitende Arbeitsteilung Kooperation erschwere, Teilegoismen und Revierdenken auf Kosten kollektiver Ziele sogar befördere. Kooperationsbarrieren zu überwinden und Vernetzung zu schaffen seien Wegbereiter für Kulturen, die die Gesundheit der Menschen in Organisationen und damit die Bereitschaft für mehr Innovation und Leistung fördern und vor allem zur Verbreitung von Freude beitragen.

 

Sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen kann helfen, besser im Moment zu agieren, sagt Managementprofessor Ben Bryant, Professor an der IMD Business School in Lausanne, Schweiz.

 Die Zeiten sind turbulent: Megatrends wie Globalisierung und Digitalisierung verändern ganze Branchen radikal, Budgets werden gekürzt, gleichzeitig sind Unternehmen unter Druck, noch mehr zu leisten.

Jeder, der in solch unsicheren Zeiten ein guter Chef sein will, müsse ganz zu Beginn einmal sich selbst widmen, sagt Ben Bryant, Professor an der IMD Business School in Lausanne. „Ohne das wird es keinem Chef möglich sein, zu verstehen, was eigentlich mit ihm selbst und rund um ihn herum passiert“, so seine These.

Prozesse im Gehirn

Teil des In-sich-Gehens müsse eine Reise in die Vergangenheit sein. „Man muss zurückverfolgen, wie man zu dem wurde, was man ist, und warum man tut, was man tut.“ Leicht sei das keineswegs. „Und es kann vor allem in Business-Settings ganz schön ungemütlich sein.“ Aber nur so könne es gelingen, mit der immer höher werdenden Komplexität umzugehen.

Zu oft würden wir im Alltag simplifizieren „und das Gehirn auf Autopilot“ stellen, um mit einem Zuviel an Information klarzukommen. Für Bryant der falsche Weg. Sein Rezept ist das Im-Moment-Sein – eine Achtsamkeit, die er aber nicht als eine Entspannungsmethode verstanden wissen will: „Zu meditieren kann helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, keine Frage. Wesentlich wirksamer ist Achtsamkeit jedoch als psychologische Methode der Informationsverarbeitung.“

Erster Schritt: Zu lernen, Prozesse im Gehirn richtig zu deuten. „Wieso wir zum Beispiel auf Überraschungen perplex reagieren“. Das würde helfen, in der Situation über den spontanen Gefühlen zu stehen. „Oft machen sie uns nämlich handlungsunfähig.“ Und warum? „Weil wir von ihnen überfordert sind.“

Mit sich selbst, mit anderen

Gerade in Führungsjobs würden Menschen häufig in solche stark emotionalen Situationen kommen – „Manager müssen mit Enttäuschung umgehen, mit Betrug, mit Verwirrung und Ablehnung. Das ist quasi ihr täglich Brot.“

Jede dieser Erfahrungen würde ihr Gehirn unter Stress setzen. „Worauf Achtsamkeit abzielt, ist, mit diesem Stress umzugehen, runterzukommen. Jene Dinge gedanklich vorzureihen, die gerade wichtig sind.“

Normalerweise würde unser Gehirn die Entscheidung über die Bedeutung einer Information für uns treffen, um uns zu schützen. Das habe allerdings die negative Konsequenz, dass man zu lange über Dinge nachdenke, die in der konkreten Situation nur von geringer Bedeutung sind. „Zum Beispiel einen Streit mit der Lieblingskollegin.“

Achtsamkeit als Schlüsselkompetenz

Aber nicht nur zur eigenen Stressbewältigung, auch im Umgang mit Mitarbeitern sei die Konzentration auf den Moment ein wichtiger Skill: Sie helfe, nicht aus einem spontanen Gefühl heraus zu reagieren. „Führung ist keine Formel, der man einfach folgen kann, und dann geht alles gut. Auch hier geht es sehr stark um das Hier und Jetzt.“

Für Brayant ist Achtsamkeit daher eine der Schlüsselkompetenzen für künftige Führungskräfte. „Momentan wird noch zu stark davon ausgegangen, dass Lernen so funktioniert: Man geht zur Vorlesung, man liest ein Buch, man legt eine Prüfung ab. Man lernt das, was man im späteren Berufsleben möglicherweise brauchen wird.“ Das sei ein sehr bewusster Prozess, sagt Bryant. Ein sehr reflektierter. „Was einem aber nicht beigebracht wird, ist, mit den Gefühlen und Gedanken umzugehen. Das würde sich aber lohnen, denn sie treiben einen um.“ Sei man sich dieser Gefühle und Gedanken bewusst, sei das ein „sehr mächtiger Skill“, sagt Bryant.

„Führungskräfte erkennen selbst, ob sie gelangweilt, müde oder voller Energie sind. Und sie merken, wenn sie sich bedroht fühlen, aggressiv, in Konkurrenz stehen oder andere schützen.“

 Nicht werten – öfter sprechen

Und wie kann diese angeblich so wichtige Fähigkeit erlernt werden? „Der erste Schritt ist, sich von der Außenwelt abzuschotten und mit seinem Inneren zu beschäftigen.“

Führungskräfte, die darauf setzen würden, seien eher fähig zu erkennen, dass sie in gewohnten Routinen feststecken. „Sie entscheiden sich aktiv für etwas, anstatt einfach nur einer Gewohnheit oder einem Gefühl zu folgen.“

Achtsamkeit bedeute schließlich auch, nicht sofort zu werten. „Etwas, das zunächst sehr schwer für Menschen ist.“

In einem Business-Kontext bedeute das den Versuch, einen möglichst unbefangenen Blick einzunehmen, konkret: „Nicht auf gleich offensichtliche Signale zu achten. In einem Meeting beispielsweise auf die Körpersprache des Geschäftspartners. Oder darauf, welche Wortwahl er benutzt.“

Routinen blockieren

Wichtig sei auch, sich von Routinen, von Gewohnheiten zu verabschieden, sagt Bryant. Sie würden Innovationen verhindern. Auch von Gedanken wie: Was hätte sein können? oder: Was sollte sein? gelte es, sich zu verabschieden. „Sie blockieren. Was wir brauchen, ist Wandel.“

Der letzte Schritt hin zu einer achtsameren Führung, zu einem achtsameren Miteinander sei es, Gespräche zu führen. Darin sollten sich Kollegen darüber verständigen, was sie jeweils für wichtig erachten. „Diese soziale Dimension zu entern ist natürlich eine Herausforderung, weil wir es natürlich nicht gewohnt sind, solche Metakommunikationen zu führen“, sagt Bryant. „Aber Betrug, Eifersucht und Konkurrenz zu thematisieren – und anderen zu sagen, wie sie uns fühlen lassen, schafft klare Verhältnisse.“

 

Wissenschafter mehrerer Institutionen, wie der Harvard Medical School in Boston, USA, erforschten die neuronalen Prozesse im Gehirn, die den Leidensdruck von Schmerzen durch Achtsamkeit mindern.

 Mit innerer Haltung gegen den Schmerz: Achtsamkeitsmeditation wird zur Behandlung chronischer Schmerzerkrankungen schon seit Jahren erfolgreich eingesetzt. Wie Achtsamkeitsmeditation das subjektive Leiden unter Schmerz auf neuronaler Ebene vermindert, hat ein Team aus Wissenschaftern des Bender Institute of Neuroimaging (BION) der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), des Massachusetts General Hospital, Harvard Medical School in Boston, USA, und der Universität Maastricht, Niederlande, nun herausgefunden. Die Forscher konnten zeigen, dass Probanden im Zustand der Achtsamkeit den Schmerz sehr wohl spüren, aber nicht so stark darunter leiden, weil die für die Bewertung des Schmerzreizes verantwortlichen Hirnareale weniger stark aktiviert werden, schreiben sie in einer Aussendung. Die Ergebnisse wurden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Cerebral Cortex“ veröffentlicht.

Abgebildete Hirnaktivierung

Achtsamkeit ist eine besondere innere Haltung, in der allem Erlebten genau so begegnet wird, wie es sich im gegenwärtigen Moment darstellt. Die Aufmerksamkeit wird beispielsweise auf Sinnesempfindungen gelenkt und diesen mit Neugierde und Akzeptanz begegnet. Anstatt sich in den üblichen Bewertungen und Reaktionen zu verlieren, bringen sich achtsame Menschen mit dem Erlebten im gegenwärtigen Moment in Kontakt und betrachten es aufmerksam, wachsam und neutral.

Für die Untersuchung wurden vierunddreißig gesunde Probanden – die Hälfte von ihnen erfahrene Achtsamkeitsmeditierende – in den Kernspintomographen gelegt, um funktionelle Aufnahmen ihrer Hirnaktivierung anzufertigen. Die Probanden bekamen am rechten Unterarm ungefährliche elektrische Schocks. Die Stärke dieser Reize hatten sie zuvor selbst so eingestellt, dass sie sie als leicht schmerzhaft empfanden. Die Versuchsleiter instruierten nun die Probanden, den elektrischen Reizen mit verschiedenen inneren Haltungen zu begegnen: mit einem Zustand der Achtsamkeit und in einem neutralen alltagsüblichen Zustand. Im Anschluss schätzten die Versuchsteilnehmer den Grad der Unannehmlichkeit, die Stärke der Elektroschocks sowie die Angst vor den Elektroschocks ein.

 Schmerzreize weniger unangenehm

Es zeigte sich, dass die erfahrenen Meditierenden im Zustand der Achtsamkeit die Schmerzreize als signifikant weniger unangenehm erlebten. Sie hatten zudem deutlich weniger Angst vor den Elektroschocks – und das, obwohl sie die Stärke der Reize nicht anders wahrnahmen. Im Gehirn der Achtsamkeitsmeditierenden war eine interessante Veränderung zu sehen: Während Areale, die für die sensorische Verarbeitung des Reizes zuständig sind, stärker aktiviert waren, nahm die Aktivierung in den seitlich-präfrontalen Arealen ab, in denen eine kognitive Neu-Interpretation des Schmerzes stattfindet. Die Probanden spürten den Schmerz also durchaus, empfanden ihn jedoch nicht als so belastend.

Dieses Muster der Hirnaktivierung unterscheidet sich deutlich von anderen inneren Strategien zur Schmerzregulation, denn üblicherweise sei genau das Gegenteil zu beobachten, so die Forscher: Wenn Probanden einen Schmerz für nicht so schlimm halten, weil sie Kontrolle darüber haben, sieht man eine erhöhte Aktivierung in den seitlich-präfrontalen Regionen. Die Aktivierung in den sensorischen Arealen nimmt dagegen ab. Während die gefundene Aktivierung im Kontrast zu anderen Studien aus der Schmerzforschung steht, passt sie zum Zustand der Achtsamkeit.

 Objektiver versus subjektiver Schmerz

Schon frühere Forschungsarbeiten hatten gezeigt, dass Achtsamkeitsmeditation die innere Haltung gegenüber dem Schmerz verändern kann. Während sich das Erleben der objektiven Aspekte des Schmerzes (d.h. die Schmerzintensität) nicht verändert, so nimmt das Ausmaß ab, in dem die Empfindung als belastend erfahren wird und Leidensdruck auslöst. Betroffene berichten, dass der Stress sinkt, der durch ihre jeweilige Krankheit ausgelöst wird und ihre Lebensqualität und ihr Wohlbefinden steigen.

„Interessant ist, dass wir nun wissen, was die neuralen Entsprechungen von Schmerzmodulation durch Achtsamkeit sind, und dass diese ganz anders sind als bisher bekannte Mechanismen“, so Tim Gard, Erstautor der Studie. Wenn sich zeige, dass dieser Mechanismus bei Schmerzpatienten nach den gleichen Mustern erfolgt wie bei den gesunden Menschen, könne das dazu beitragen, andere Behandlungen für chronische Schmerzerkrankungen zu entwickeln.

Abstract zur Studie im Fachmagazin Cerebral Cortex

 

 

 

Was bringt Yoga eigentlich? Einer der bekanntesten Yoga-Lehrer der USA, Richard Freeman über Verletzungsgefahren und Heilpotenziale.

 STANDARD:

„Kann Yoga den Körper ruinieren?“ war eine Frage, die vor einem halben Jahr in allen österreichischen Tageszeitungen diskutiert wurde. Sie sind seit 1968 Yogi. Was hätten Sie geantwortet?

Richard Freeman: Natürlich kann Yoga den Körper ruinieren, gefährdet sind all jene, die Yoga mit Leistung verknüpfen. Es kommt immer darauf an, wie man praktiziert. Wenn Lehrer ihren Schülern nicht die richtige Körperausrichtung beibringen, kann sich das sehr negativ auf die Gelenke auswirken. Es kann den Körper ruinieren. Andererseits kann Yoga aber auch das beste Heilsystem der Welt sein.

STANDARD: Inwiefern?

Freeman: Die Körperübungen im Yoga sind eine Art von Physiotherapie. Es gibt viele Menschen, die sich nur sehr wenig mit dem eigenen Körper befassen. Wer regelmäßig übt, lernt sich gut kennen, beobachtet sich, weiß um die eigenen Grenzen Bescheid.

STANDARD: Das gilt doch aber wohl für alle Sportarten?

Freeman: Meditation und die damit verbundene Aufmerksamkeit des Geistes ist im Sport selten ein Ziel, aber genau darum geht es im Yoga eigentlich. Der Geist soll klar werden.

STANDARD: Und das geht, indem sich Yogis in brezelartigen Stellungen verrenken?

Freeman: Es sind Übungen, die für den Körper und damit auch für den Geist sehr ungewöhnlich sind. Und plötzlich sieht man die Welt in völlig neuen Perspektiven. Plötzlich fühlt man Körpermuster, die man normalerweise nicht spürt. Die Brezelstellungen rufen Gefühle wach, die man sonst vielleicht auch gar nicht spüren will. Aus Erfahrung kann ich sagen: Eine der schwierigsten Übungen ist ruhiges Sitzen und Atmen und seinen Geist nicht in andere Gefilde abdriften zu lassen. Wer meditiert, fühlt, dass alle und alles miteinander verbunden sind. Es ist eine fantastische Erfahrung.

STANDARD: Klingt nach Religion.

Freeman: Yoga kann, muss aber keine Religion sein. Für viele ist es ein Ersatz für die Religion, in der sie aufgewachsen sind. Doch Religion und Yoga muss man unterscheiden, Religion ist eine tiefe mystische Erfahrung.

STANDARD: Sie sprechen in Ihren Stunden oft von „suffering“, dem Leiden. Warum?

Freeman: Weil Yoga wirklich glücklich machen kann und eine so simple Übung, wie die Arme zu heben, sich fantastisch anfühlt (hebt die Arme und lacht). Manchmal fast zu gut. Es ist eine Ironie der Natur, dass wir jeden Tag älter werden und dem Verfall ein Stück näher kommen. Alter, Krankheit und Tod gehören zum Leben, das ist einfach so. Wer regelmäßig praktiziert, schafft Klarheit im Geist und im Herzen. Das befreit einen vom Zustand des Leidens – sogar dann, wenn man Schmerzen hat. Man kann Schmerzen haben und nicht leiden. Das ist möglich.

STANDARD: Yoga machen aber in erster Linie relativ junge Frauen in westlichen Großstädten. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Freeman: Das Leben in modernen Großstädten ist nicht besonders gesund. Jeden Tag dieselben Routinen, Stress, kaum Bewegung. Alles geht schnell, muss schnell gehen, und deshalb haben wir in unserem Denken Kategorien geschaffen, mit denen wir sämtliche Dinge beurteilen. Dadurch sieht man nicht, was auch sonst noch da sein könnte. Dadurch geht Menschlichkeit verloren.

STANDARD: Gleichzeitig ist Yoga in den letzten Jahren auch ein sehr erfolgreiches Business geworden.

Freeman: Das stimmt, es geht auch hier mittlerweile um Geldverdienen und Marktanteile. Es gibt Richtungen, die erinnern mich fast an Scientology. Ich denke, das ist schlecht.

STANDARD: Wie sollten sich Neueinsteiger in dieser Szene innerhalb der verschiedenen Richtungen und ihren Versprechungen zurechtfinden?

Freeman: Es gibt viele Arten von Yoga, und ironischerweise bringt jede auf ihre Weise sogar eine Art von Wohlgefühl. Ich denke, man sollte zu großen Versprechungen nicht trauen. Es sollte immer einen Austausch, eine Dialektik zwischen Yoga-Stilen geben. Toleranz gegenüber anderen Stilen ist ein guter Hinweis. Auch in Indien, wo Yoga entstanden ist, tauschen sich die Schulen aus. Wichtig ist vor allem, dass Yoga seinen meditativen Ansatz bewahrt. Das hält den Geist flexibel. Kritik muss im Yoga erlaubt sein, dadurch entwickeln sich ja die Systeme auch weiter.

STANDARD: Gilt das auch für Ihren Unterricht?

Freeman: Ich unterrichte Ashtanga-Yoga, aber in einer von mir modifizierten Form. Ich spreche in meinen Stunden viel über die Anatomie, über die inneren Muskelsysteme des Körpers und über das Atmen. Das sind Dinge, die meine Lehrer mir beigebracht haben und die ich weitergebe.

STANDARD: Können auch alte und kranke Menschen Yoga machen?

Freeman: Wir werden alle älter, kränker, insofern ist es für uns alle ein Thema. Aber klar, wenn ältere Menschen mit Yoga beginnen, statten wir sie mit Blöcken, Decken und Bändern aus und adaptieren Übungen. So kann jeder Übungen machen, sogar nach Operationen. Jedes gute Yoga-System und jeder gute Yoga-Lehrer kann sich an spezielle Bedürfnisse anpassen. Auch im Bett liegen kann zu einer Yoga-Übung werden. Irgendwann geht es für jeden von uns nur mehr ums Atmen. Zu diesem Punkt werden wir kommen, und dafür trainieren wir, machen Yoga.

Richard Freeman (62) ist einer der bekanntesten Yoga-Lehrer der USA. Er praktiziert seit 44 Jahren Yoga, hat eine Schule in Boulder/Colorado.

 

Zeitforscher Franz Schweifer hat den Kampf gegen die Rastlosigkeit aufgenommen – Er weiß, wie sich eine Kosten-Nutzen-orientierte Gesellschaft von kollektiven Zeitregimes befreien kann.

„Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparen, desto weniger haben sie“, schrieb Michael Ende in seinem Buch „Momo“ 1973. Die grauen Herren hatten es darin auf die Lebenszeit der Menschen abgesehen – die verloren nach und nach ihre Freude am Leben.

2012 repräsentieren Begriffe wie Burnout, Fastfood, Multitasking und Speeddating das beschleunigte Tempo einer modernen Gesellschaft. Zeit wird immer knapper. Klöster und Meditationszentren nutzen diesen Trend und bieten Entschleunigung für die Opfer dieses Prozesses.

Der Zeitforscher Franz Schweifer hat den Kampf gegen die Rastlosigkeit schon lange aufgenommen. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt er, wie sich eine Kosten-Nutzen-orientierte Gesellschaft von kollektiven Zeitregimes befreien kann.

at: War Michael Ende seiner Zeit voraus?

Schweifer: Er hat bereits vieles antizipiert, was später in einer hypertrophen Form eingetroffen ist.

at: Gehört den Zeitsparern heute die Zukunft?

Schweifer: Da bin ich sehr skeptisch. Es gibt zwar diese massive Lust an der unendlichen Verdichtung, gleichzeitig aber auch das Leid an dieser Dichtheit. Die Geschichte zeigt uns, dass Extreme immer von anderen Extremen abgelöst werden, zumindest aber das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt. Wie weit, kann ich nicht sagen, aber es ist sicher vermehrt das Bedürfnis vorhanden, sparsam und sorgsam mit Zeit umzugehen.

at: Das heißt, vom Zeitsparen zur Zeitvergeudung?

Schweifer: Von Zeitvergeudung kann nur die Rede sein, wenn sich im eigenen Tun kein Sinn findet. Der Sinn ist die zentrale Kategorie der Zeitempfindung. Dort, wo Sinn präsent ist, sind alle anderen Fragen eigentlich schon sekundär. Es geht um Erfülltheit und nicht um Fülle.

at: Also kann nur subjektiv betrachtet von Zeitvergeudung die Rede sein?

Schweifer: Subjektiv und natürlich auch kollektiv betrachtet. Wofür Zeit genützt wird, ist auch mit kulturellen und sozialen Codes belegt. Das hat ganz wesentlich mit Leistung zu tun.

at: Also eine Frage der Kosten-Nutzen-Analyse?

Schweifer: Darin besteht die Kunst, für sich selbst herauszufinden: Wofür gestatte ich mir, Zeit zu vergeuden? Wo entziehe ich mich diesem kulturellen Code, wo leiste ich es mir, nichts zu leisten, auch wenn andere dann behaupten, ich sei nicht leistungsaffin?

at: Aber ist das menschliche Leben dafür nicht generell zu kurz?

Schweifer: Einerseits ja, denn Lebenszeit ist per se fast immer zu kurz, um alle Handlungsoptionen, Wünsche und Pläne unterzubringen. Andererseits nein, denn eigentlich haben wir nicht zu wenig Zeit, sondern zu viele Bedürfnisse. Und solange die Bedürfnisliste zu lang ist, wird das Leben zwangsläufig immer zu kurz sein.

at: Tun sich Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, da etwas leichter?

Schweifer: Wenn Spiritualität, Transzendenz und Glaube eine Rolle spielen, stellt sich nicht so drängend die Frage nach der Endlichkeit. Wenn das Leben per definitionem mit dem Tod zu Ende ist, dann kommt dieses Gefühl, permanent beschleunigen zu müssen, ganz von selbst.

at: Warum vergeht denn mit zunehmendem Alter Zeit immer schneller?

Schweifer: Im Wesentlichen gibt es dafür zwei Erklärungen: Einerseits läuft die biologische Uhr des Menschen mit zunehmendem Alter langsamer, deshalb wird die physikalische, also objektiv messbare Zeit subjektiv schneller empfunden. Dazu kommt noch der Effekt der sogenannten Ereigniszeit. Das ist ein Zeitraum, in dem sehr viel passiert. Folgen viele Ereignisse aufeinander, wird die vergangene Zeit als sehr kurz empfunden. Ereignislose Zeiträume werden dagegen subjektiv als lang und lähmend empfunden.

at: Zeitempfinden ist also immer an Ereignisse gebunden?

Schweifer: Ja, Zeit kann aus psychologischer Sicht als eine Dimension der Wahrnehmung des Erlebens definiert werden. Die subjektiv erlebte Zeit ist demnach von zahlreichen inneren und äußeren Faktoren abhängig, während die physikalische Zeit quasi unbeeinflusst gleichmäßig vergeht. Zeit existiert immer als objektives und subjektives Maß zugleich. Was aber für nutzenorientierte Gesellschaften typisch ist: Subjektiv erlebte Zeit wird objektiviert, sprich, den kollektiven Mustern und Zeitregimen angepasst.

at: Wie können wir uns denn von den kollektiven Zeitregimes befreien?

Schweifer: Das ist nur bedingt möglich, da es in Hochleistungskulturen eben üblich ist, dass die individuelle Zeitgestaltung hochgradig an soziale kollektive Zeitmuster gekoppelt ist. Eine Entkoppelung ist nur in Nuancen realistisch. Ein Befreiungsmotor ist die Pflege von Ritualen und das Üben in selektiver Ignoranz. Rituale sind selbstbestimmte Zeithaltegriffe in der Tempolandschaft. Konkret sind das kleine regelmäßige Auszeiten, sogenannte Zeittaschenübungen, die in den gewohnten Alltag eingebaut werden.

at: Was können das für Rituale sein?

Schweifer: Eine dreiminütige Achtsamkeitsübung beispielsweise dient dazu, sich ausschließlich auf die eigene Atmung zu konzentrieren. Am Abend ist es günstig, eine kurze geistige Mülltrennung zu machen – also alles, was mir tagsüber nicht gut getan hat, kurz vor dem Schlafengehen in den Gulli schmeißen und die Klospülung betätigen. Und, positiv formuliert, sich an jene Kleinigkeiten erinnern, die im Laufe des Tages als gut empfunden wurden. Eigentlich ist es Selbsthygiene, die hier betrieben wird.

at: Was versteht man unter selektiver Ignoranz?

Schweifer: Darunter verstehe ich das Bewusstsein, dass ich zwar wenig bis nichts dagegen tun kann, was und wie viel in welcher Geschwindigkeit den Tag über so auf mich zukommt – ähnlich einem Running-Sushi-Karussell -, dass ich aber bewusst darüber entscheide, wann ich wo „zugreife“. Selektive Ignoranz ist aber keineswegs gleichbedeutend mit „Wurschtigkeit“, sondern zeigt vielmehr eine Art Widerstand gegen eine „Zuvielisation“, die uns permanent suggeriert, was wir nicht alles bräuchten oder tun müssten.

at: Mehr Zeit verschafft sich der Vielbeschäftigte dadurch aber nicht.

Schweifer: Die Frage muss lauten: Will ich überhaupt mehr Zeit und, wenn ja, wofür? Es macht einen bedeutenden Unterschied, ob jemand meint, mit mehr Zeit noch mehr leisten und erwirtschaften zu können oder zu wollen, beziehungsweise ob mit dieser Mehrzeit mehr gerastet und genossen wird. Hier stellt sich auch das Dilemma der Work-Life-Balance. Wobei fälschlicherweise suggeriert wird, es gelte, die zwei gegensätzlichen Pole Work und Life auszutarieren.

Arbeit kann und soll natürlich auch Leben bedeuten. Sie sind per se keine Gegensätze. Aber es drängt sich die Frage auf: Arbeite ich, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten? Damit verbunden stellt sich eine weitere Frage: Wie und woraus lukriere ich meinen Selbstwert?

at: Wie findet sich die optimale Balance beziehungsweise sollte der Selbstwert eher aus der Arbeit oder der Freizeit lukriert werden?

Schweifer: Die Frage impliziert ja bereits, dass die Balance-Frage erstens immer eine subjektiv zu beantwortende ist und zweitens eine Frage darstellt, die auch Ausdruck der individuellen Wertepyramide ist. Es geht also um die selbstkritische Auseinandersetzung, worüber ich mich persönlich definiere, worauf ich materiell und/oder ideell Wert lege – und wo ich ergo dessen bereit bin, dafür Zeit, Liebe, Geld und so weiter auszugeben.

Die klassischen, effizienzorientierten Zeitmanagement-Hebel, um ein gutes Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben herzustellen, greifen hier wohl zu kurz. Weil sie das Zeitnotübel nur noch besser organisieren.

at: Was ist zielführender?

Schweifer: Es geht um die Entwicklung von Souveränität, darum, sich selbstkritisch Fragen zu stellen wie: Was treibt mich an? Welche Erwartungen habe ich an mich selbst? Wessen Erwartungen erfülle ich? Wohin möchte ich? Die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und Bedürfnissen ist zentral. Denn wie schon zuvor erwähnt: Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern zu viele Bedürfnisse. Wir wollen einfach zu viel, und das sofort.

at: Aber um sich darüber klar zu werden, braucht es doch erst recht wieder Zeit.

Schweifer: Das ist richtig. Es ist Zeit erforderlich, die sich aber viele nicht nehmen wollen beziehungsweise können. Auch vielleicht aus der Befürchtung heraus, dass die Konfrontation mit der Stille uns auf uns selbst zurückwirft. Denn Stille ist auch ein Einfallstor für unangenehme Gedanken, eine Konfrontation mit dem Unangenehmen. Wird die Stille unerträglich, dann wird sie umgehend wieder mit Aktivität zugepflastert. Provokant formuliert: Arbeiten ist leichter als leben.

at: Würden Sie denn Arbeit und Privates strikt trennen?

Schweifer: Es kommt auf den Beruf an. Als Selbstständiger fließen Profession und Privates immer ein Stück weit ineinander. Auch bei mir ist das so, trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass ich darunter leide, weil die Sinnhaftigkeit stimmt. Menschen, die etwa einen körperlich sehr anstrengenden Beruf ausüben, sind wahrscheinlich froh darüber, wenn sie eine klare Trennung vollziehen können. Zeit bewusst der Familie, dem Partner oder sich selbst zu widmen ist eine ganz wichtige persönliche Entscheidung. Ganz im Sinne der uralten, aber wohl zeitlos gültigen Erkenntnis: Alles hat und braucht seine Zeit.

at: Haben es Kinder im Umgang mit Zeit leichter?

Schweifer: Ein Kleinkind erfasst Zeit nur als das, was es gerade erlebt, befindet sich also ganz im Jetzt. Für Kinder hat Zeit keine Bedeutung, auch wenn sie sehr wohl in der Lage sind, zukünftigen Ereignissen sprachliche Begriffe zuzuordnen.

at: Wann bekommt der Mensch einen Begriff von Zeit?

Schweifer: Etwa im Schuleintrittsalter fängt das Kind an mit zeitlichen Ordnungsbegriffen umzugehen und erlernt beispielsweise das Lesen der Uhr. Als Jugendlicher beginnt man schließlich über die eigene Zeitlichkeit nachzudenken beziehungsweise die Endlichkeit des Lebens zu begreifen.

at: Das Zeitbewusstsein des Menschen ist also keine angeborene Fähigkeit?

Schweifer: Nein, das subjektive Erleben und Wahrnehmen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wird erst im Laufe des Lebens erlernt.

at: Haben unpünktliche Menschen kein Zeitbewusstsein entwickelt?

Schweifer: Bis zu einem gewissen Grad – ja. Notorische Unpünktlich kann mit einem Defizit an Zeitbewusstsein oder Selbstorganisation zu tun haben. Jedenfalls hat sie vielfach den Beigeschmack von Unhöflichkeit. Unpünktlichkeit kann aber auch die Fähigkeit sein, sich quasi in der Zeit zu verlieren. Diese Menschen können den Augenblick genießen und sich auf unerwartete Abzweigungen des Zeitweges spontan einlassen. Sie widersetzen sich mechanischer Taktung.

at: Warum empfinden wir diese Fähigkeit als unhöflich?

Schweifer: Weil Pünktlichkeit auch ein Zeichen von Wertschätzung ist, der Respekt gegenüber der „knappen“ Zeit des jeweilig anderen.

at: Warum empfinden wir das Warten auf jemanden oder etwas als so unangenehm?

Schweifer: Weil vordergründig nichts Nützliches passiert und weil Warten unproduktiv ist und daher keinen attraktiven Mehrwert in einer nutzenorientierten Gesellschaft darstellt. Wir haben Tempo bereits internalisiert, Warten wird als Zeitverschwendung empfunden. Im Innehalten erhält die zumeist negativ konnotierte Langeweile allerdings einen positiven Apostroph, wenn sie zur „langen Weile“ wird, einer Zeit der Muße, die alles andere als eine öde, langweilige und vertrödelte ist.

at: Wird Ihnen die Zeit manchmal zu knapp?

Schweifer: Ja, natürlich. Ich kenne keinen Menschen, der davor gefeit ist, der diesem Dilemma nicht ausgesetzt ist. Es ist nur wichtig, dass man nicht aufgibt, den Versuch zu unternehmen, dagegen anzukämpfen oder damit zu ringen. Unter dem Strich sollte man sagen können, es tut sich etwas, nämlich etwas Positives. Das Allerwichtigste ist, es geht nicht um die Menge, sondern die Qualität an Zeit. Es geht darum, nicht bloß in die Breite, sondern in die Tiefe zu leben.